Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 361

Telepathie Hof-Operntheater: »Così fan tutte«* (Driesmans, HeinrichGraf, Max)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 361

Text

THEATER.

fühlenden, warmpochenden Menschen-
herzen ein Unding sein?«

»Hm, hm!«

»Aber man muss Rhythmus in der
Seele haben, um den Ton zu treffen, den
eine andere Seele anschlägt — das heißt,
man muss eine feine, starke Seele sein,
eine Seele, die den Takt zu ergreifen und
zu halten weiß.«

»Immer besser!«

»Man muss eine liebende Seele sein
— eine Seele, die der großen Liebe
fähig ist. Weißt du, was das ist, die
große Liebe?«

»—?«

»Die große Liebe, das ist Allwissen-
heit, die Weisheit des Leibes, der näm-
lich immer weiß, was er will; und wenn

er ein feiner, starker Leib ist, dann be-
sitzt er die große Liebe — Allwissenheit.«

»Herr, dunkel ist der Rede Sinn!«

»Denn dann fühlt er sich Eins mit seiner
Umgebung; dann bewegt er das ganze
Stoff-Meer durch das Athmen seiner
Seele — dann ist er die athmende Seele
des Alls!«

»Was du nicht alles weißt!«

»Dann weiß er alles, was rings um
ihn vorgeht — auch was er nicht sehen,
nicht hören kann; und je stärker seine
Seele, je energischer ihr Athmen ist, auf
einen desto größeren Umkreis erstreckt
sich sein fühlendes Wissen.«

»Genug, genug!«

»Wenn du’s nicht fühlst, du wirst es
nie erjagen.«

THEATER.

HOF-OPERNTHEATER: COSÌ FAN
TUTTE. Wie oft erlebt es der Kunstfreund, dass
ein dichterisches oder musikalisches Werk, an
welchem der Kunstpöbel achtlos oder achsel-
zuckend vorbeigeht, in irgendeiner glücklichen
Stunde zu dem Intimsten und Geheimsten
seiner Seele spricht und ihm zu einer Offen-
barung wird! Alles vergoldet sich ihm darin,
alles erhält neue Beziehungen, jedes Wort,
jeder Ton verkündet ihm Niegesagtes. Wenn
er dann mit seiner Entdeckung auf den Markt
tritt, unter die Schar der Gaffer und Schreier,
und er ihnen verkündet, was sein Herz erfüllt,
wie oft muss er es dann nicht erleben, dass
man das Neue nicht hören, das Ungewohnte
nicht sehen will, dass als Laune erscheint,
was ihm ein Ereignis seines Lebens ist! Jede
Künstlernatur erlebt diese Tragödie hundert-
fach, immer aufs neue zurückgestoßen, immer
aufs neue hoffend, vertrauend So, fürchte
ich leider, wird es Gustav Mahler mit seiner
»Così fan tutte«-Aufführung gehen, die bis
jetzt seine schönste That ist, vollkommen im
Großen und Kleinen, durch und durch har-
monisch und rein. Keine Aufführung schien
mir bisher soviel persönliches Empfinden zu
tragen, soviel Erlebtes, Individuelles unmittel-
bar auszuströmen (wenn nicht vielleicht die
vielumstrittene Aufführung der Neunten Sym-
phonie). Da ist ein Text von berüchtigt leicht-
fertiger Mache, voll von unmöglichen und
thörichten Dingen — so schien es bisher. In
dieser Aufführung wird ein heiteres Masken-
spiel daraus, ein tändelndes, beschwingtes

Proverbe, ein über Wahrscheinlichkeit und
Unsinn hinwegkokettierendes Ding, leichtbe-
fiedert und schwerlos. Da ist eine Musik, die
— abgesehen von ein paar stets citierten
Prachtstellen: A-dur-Arie, F-dur-Quintett, E-dur-
Terzett — nicht als edelste Mozart’sche Marke
gilt. In dieser Aufführung wird das Ganze zu
einer Lustspiel-Musik ersten Ranges, bei deren
Anhören es Einem ist, als ob man an einem
Frühlingsmorgen in einem rosengeschmückten
Boote leicht gerudert über einen See dahin-
geführt würde. So zärtlich, schmeichelnd, be-
thörend erklingt das Ganze. Und — eine ganz
persönliche Note des Künstlers, welcher das
Werk geleitet hat — in allem waltet eine
leichte Ironie: im stilisierten Spiel der Dar-
steller, in ihrer pretiösen Art, zu singen, in
der rhythmischen Schelmerei des Orchesters.
Möge die Aufführung mehr bedeuten, als einen
Sommernachtstraum Gustav Mahlers!
Von solchen Erinnerungen ist es schwer, Ab-
schied zu nehmen. So möchte ich noch eines
erwähnen: Was für eine künstlerische Er-
ziehung müsste nicht ein Mozart-Cyklus, der
sich auf ähnlicher Höhe hielte, für ein Publi-
cum sein, das ihn nicht nur anhören, sondern
miterleben würde. Müsste nicht Jeder durch
eine Reihe solcher Festtage in seinem Innersten
verändert dem Leben gegenübertreten? Mit
größerer Heiterkeit, Zärtlichkeit und Milde,
mit einem versteckten Lächeln über die thö-
richten und ungeformen Dinge der Welt, gegen
Schmerz und Bitterkeit gefeit.

MAX GRAF.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 361, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-20_n0361.html)