Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 353

Die Wahrheit über Friedrich Nietzsche (Deussen, Paul, Prof.)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 353

Text

DIE WAHRHEIT ÜBER FRIEDRICH NIETZSCHE.*
Von PROF. PAUL DEUSSEN (Kiel).

Als ich mit meiner Frau im Herbst
1887 eine Reise durch Tirol, die Schweiz,
Italien, Griechenland und die Türkei unter-
nahm, war es mir eine Herzensangelegenheit,
meinen Jugendfreund und Schulkameraden
Nietzsche in Sils-Maria zu besuchen. Unge-
duldig wartete er auf unseren angekündigten
Besuch, zweifelte an dessen Ausführung
und war erst beruhigt, als unsere voraus-
gesandten Koffer als Unterpfand in seine
Hände kamen. An einem wunderschönen
Herbstmorgen stieg ich mit meiner Frau,
von Chiavenna kommend, über den Maloja-
pass, und bald lag Sils-Maria vor uns, wo
ich mit klopfendem Herzen dem Freund
entgegentrat und ihn nach vierzehnjähriger
Trennung tief bewegt umarmte. Aber
welche Veränderungen waren in dieser
Zeit mit ihm vorgegangen! Das war nicht
mehr die stolze Haltung, der elastische
Gang, die fließende Rede von ehedem.
Nur mühsam und etwas nach der Seite
hängend schien er sich zu schleppen, und
seine Rede wurde öfter schwerfällig und
stockend. Vielleicht hatte er auch nicht
seinen guten Tag. »Lieber Freund«, sagte
er wehmüthig, indem er auf einige vor-
überziehende Wolken deutete, »ich muss
blauen Himmel über mir haben, wenn ich
meine Gedanken sammeln soll«. Er führte
uns dann zu seinen Lieblingsplätzen. Be-
sonders in Erinnerung ist mir noch ein
Rasenlager dicht am Abgrunde, hoch über
einem in der Tiefe hinbrausenden Gebirgs-
bach. »Hier«, sagte er, »liege ich am
liebsten und habe meine besten Gedanken«.
Wir waren in dem bescheidenen Hotel
zur Alpenrose abgestiegen, in dem Nietzsche
sein Mittagsbrot, bestehend gewöhnlich in
einer einfachen Cotelette oder dergleichen,
einzunehmen pflegte. Dort zogen wir uns,
um zu ruhen, für eine Stunde zurück. Kaum
war sie verstrichen, so war der Freund
schon wieder an unserer Thür, erkundigte
sich zärtlich besorgt, ob wir noch müde
seien, bat um Entschuldigung, wenn er

zu früh gekommen sein sollte u. s. w. Ich
erwähne dies, weil eine solche übertriebene
Besorgtheit und Rücksichtnahme früher
nicht in Nietzsches Charakter gelegen
hatte und mir für seinen gegenwärtigen
Zustand bezeichnend schien. Am nächsten
Morgen führte er mich in seine Wohnung
oder, wie er sagte, in seine Höhle. Es
war eine einfache Stube in einem Bauern-
hause, drei Minuten von der Landstrasse,
welche Nietzsche während der Saison für
einen Franken täglich gemietet hatte. Die
Einrichtung war die denkbar einfachste.
An der einen Seite standen seine mir von
früher her meist noch wohlbekannten
Bücher, dann folgte ein bäurischer Tisch
mit Kaffeetasse, Eierschalen, Manuscripten,
Toilettegegenständen in buntem Durch-
einander, welches sich weiter über einen
Stiefelknecht mit darin steckendem Stiefel
bis zu dem noch ungemachten Bette fort-
setzte. Alles deutete auf eine nachlässige
Bedienung und auf einen geduldigen, sich
in alles ergebenden Herrn. Nachmittags
brachen wir auf, und Nietzsche gab uns
das Geleite bis zum nächsten Dorf, eine
Stunde thalabwärts. Hier sprach er, wie
schon früher einmal, düstere Ahnungen aus,
welche sich leider so bald erfüllen sollten.
Als wir Abschied nahmen, standen ihm die
Thränen in den Augen, was ich früher
nie an ihm gesehen hatte. Ich sollte ihn
nicht mehr mit klarem Bewusstsein wieder-
sehen.

Die gedrückte Stimmung, in der ich
den alten Freund wiedergefunden hatte,
erklärte sich, von seinem Gesundheits-
zustande abgesehen, vor allem auch daraus,
dass Nietzsche für seine genialen, Jahr
für Jahr veröffentlichten Arbeiten damals
beim Publicum nur sehr geringe Theil-
nahme, ja wohl nur mit Mühe einen Ver-
leger zu finden vermochte. Nur vereinzelte
Stimmen, wie z. B. die des Dänen Brandes,
fiengen an, sich für ihn zu erheben. Um
diese Zeit trat eines Tages im Sprech-

* Wir finden uns veranlasst, den berühmten Forscher in einer Frage zu Worte kommen
zu lassen, über die man in jüngster Zeit die confusesten Meinungen zu hören bekam. Paul
Deussen, der sich in seiner Philosophie auf dem Boden der ältesten Überlieferungen zu einer
in Wahrheit modernen Weltanschauung erhebt, mag hier umso eindringlicher zur Klärung
beitragen, als er von Jugend an Gelegenheit hatte, die Entwicklung seines Schulcollegen und
Freundes Nietzsche zu studieren. Auf Deussens Philosophie werden wir ausführlich zurück-
kommen. D. RED.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 353, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-20_n0353.html)