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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 352

Text

HEIBERG: SIGBJÖRN OBSTFELDER.

erregt, wurde sie unsicher und sagte nicht:
Bleibe! so gieng er, kam aber gleich
wieder zur Thür herein und fragte leise,
ob sie denn wolle, dass er gehe, sagte
sanft, er könne nicht glauben, dass dies
ihr Wille sei. Den Anwesenden aber trug er
nichts nach. Für ihn waren sie nicht
gegenwärtig. Und es geschah, dass sie
entwaffnet wurden, sich vor ihm beugten
und ihn fast verstanden.

Obstfelder gieng so still durchs Leben.
Man hört nicht, dass er todt ist. Es war
kein lautes Geräusch, das plötzlich erstarb,
keine laute Stimme, welche brach, es war
nur ein Poet, der verstummte, als Obst-
felder aus dem Leben schied.

Lautlos konnte er plötzlich in der
Stube stehen, konnte plötzlich ganz still,
nah neben Einem sitzen. Wie er plötzlich
errathen konnte, was der andere ver-
barg! So zart, so verständnisvoll, so lieb!
Und wie konnte er sich selbst entfernen
und auch Denjenigen, mit dem er sprach.
Nicht gerade durch Worte, auch nicht
durch Schweigen. Aber plötzlich — ohne
dass es möglich war, zu sagen, wie —
plötzlich war er wieder auf der Wan-
derung.

Es war etwas Unsichtbares an ihm.
Es war mit ihm, wie mit den Bacillen
in der Luft, die unsichtbar Ansteckung
verbreiten. Er trug aber nur Gutes unter
die Menschen. Denn Alle, die Obstfelder
gekannt haben, können sagen, dass an
irgendeiner Stelle ihres grauen Daseins
ein heller Schimmer geleuchtet hat, ein

Duft von etwas Schönem zurückgeblieben
war, ein Zittern von etwas Edlem, sie
können sagen, dass er ihnen ein Gefühl
von Wert verliehen, Botschaft von etwas
Stolzem, und dass er ihnen Sicherheit
gebracht hat in dem Glauben, es gebe
etwas Besseres, Größeres, als Das, was
wir kennen. Dies kam aber daher, dass
Licht und Finsternis höchst selten, viel-
leicht kein andermal so grimmig auf Leben
und Tod gerungen haben, wie in diesem
Manne mit dem kräftigen, fast wilden
Untergesicht, mit dem gierigen Mund, den
starken Kiefern, dem willenfesten Kinn, der
feinen, edelgewölbten Stirn und den licht-
blauen, seelenvollen, traurigen Augen.

Das Gute, das Obstfelder unter uns
trug, war theuer erkauft. Und so dicht
verhüllte er sein tiefstes Innere, dass un-
sichtbar ein Zittern von seinem Wesen
auszugehen schien. Man hörte nicht, dass
er starb. Aber jetzt, da er für immer
seine schweren, schweren Lider ge-
schlossen hat, ist es, als könnten wir
das Unsichtbare an ihm sehen. Und das
mag wohl lange zwischen Menschen
zittern, die sonst vielleicht nichts Gemein-
schaftliches haben. Er war ein stiller
Wanderer auf Erden. Er führte all das
Seine mit sich. Er suchte und suchte,
nicht das Glück, sondern die Wahrheit,
den Zusammenhang, den Sinn der Dinge,
»die Schönheit des Lebens«, und während
er gieng, sang er schöne Lieder, spielte
herrliche Symphonien zur Freude Derer,
denen er am Wege begegnete.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 352, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-20_n0352.html)