Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 359

Die Wahrheit über Friedrich Nietzsche Telepathie (Deussen, Paul, Prof.Driesmans, Heinrich)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 359

Text

DRIESMANS: TELEPATHIE.

die Christusgestalt der Kirche ist; beide
treffen in wesentlichen Zügen zusammen,
und es begründet keinen tiefen Unter-
schied, wenn Nietzsche die Verwirklichung
seines Ideals erst von der Zukunft er-
wartet, während die Kirche das ihrige als
verwirklicht in einem Menschen der Ver-
gangenheit anschaut. Denn in Wahrheit
gehört dieses Menschheits-Ideal, mag man
es Christus oder den Übermenschen nennen,
weder der Vergangenheit noch der Zu-
kunft an, sondern es ist eine metaphysische,
zeitlose Gotteskraft, welche potentiell in
uns allen schlummert und in uns allen
hervortreten kann. Dies geschieht aber
nicht, wie Nietzsche meint, auf dem Wege
der Genialität, so hoch wir diese auch
schätzen mögen, sondern durch Selbst-
verleugnung, das ist Moralität; denn der

Intellect ist und bleibt secundärer Natur,
das Radicale und Metaphysische ist in uns
der Wille; dieser aber ist eine Potenz,
welche nicht nur dem Genie, sondern auch
den »Überflüssigen«, den »Vielzuvielen«
zukommt, daher die höchste Aufgabe, der
höchste Weg jedem offensteht, wer er
auch sei. Nietzsche selbst nähert sich in
seiner letzten Schrift schon der Vorstellung,
dass der Übermensch nicht ein künftig zu
erwartender Messias sei, zu dessen Her-
vorbringung ganze Völker und Generationen
als bloßes Substrat dienen, sondern ein
jedem Menschen ergreifbares Lebens-Ideal,
und gewiss würden sich seine Vorstellungen
noch weiter in diesem Sinne geklärt haben,
wäre nicht zu früh für ihn und zu früh
für uns die Nacht über ihn hereinge-
brochen.

TELEPATHIE.
Ein Dialog
von HEINRICH DRIESMANS (Berlin).

»Telepathie — was ist das?«

»Sahst du nie einen Stein ins Wasser
fallen? Was sahst du?«

»Nun, Wellen.«

»Wellenringe! — Und wenn du
sprechend die Luft bewegst — was gibt
es da?«

»Schallwellen.«

»Ringe! — Und wenn zwei Stoffe
sich mit Glutarmen umfassen, was
siehst du dann?«

»Licht —«

»Licht, das sich wie die Wasser- und
Luftwellen gleichmäßig kreisförmig nach
allen Seiten verbreitet.«

»Meinetwegen. Aber was soll das?«

»Wenn Stein auf Stein hintereinander
ins Wasser fällt, immer an derselben
Stelle — was siehst du dann?«

»Wellen, Wellen, immer dieselben
Wellenringe.«

»Gut; wie wenn du sprichst — wie
wenn du dich bewegst — wie wenn du
athmest — —«

»Nun, und?«

»Nun, und? Muss das nicht auch immer
dieselben Wellenringe geben?«

»Was?«

»Wenn ein Mensch spricht — sich
bewegt — athmet —?«

»Das verstehe ich nicht.«

»Zittert das nicht durch deinen ganzen
Körper — der Schlag deines Herzens?«

»Ja — wohl.«

»Nun, und? Die Schläge deines Herzens,
sind sie nicht wie das Fallen der Steine
ins Wasser, immer an derselben Stelle?«

»Hm!«

»Muss sich da also nicht Ring auf
Ring von deinem Körper lösen — Schlag
auf Schlag, wie dein Herz hämmert?
Muss nicht der vom Schlag deines Herzens
zitternde Körper alles in seiner Nähe
mitzittern machen?«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 359, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-20_n0359.html)