Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 349

Aus der Ballade des Stockhauses zu Reading Sigbjörn Obstfelder (Wilde, OscarHeiberg, Gunnar)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 349

Text

HEIBERG: SIGBJÖRN OBSTFELDER.

Und jedes Menschenherz, das bricht
Im Kerkerhof oder Zelle,
Ist wie der geborstene Schrein, der zum
Licht
Des Vaters hinaufreicht seines Schatzes
Helle
Und ausgießt der kostbarsten Narden Duft
Über des Aussätzigen unreine Schwelle.

O selig, deren Herz vergeht
Und durch Verzeihung den Frieden ge-
winnt!
Wie fände der Mensch sonst den richtigen
Weg,
Zu reinigen sich von der Sünde?
Wie könnt’ in ein gebrochenes Herz
Herr Jesus Eingang finden?

Und der mit dem geschwollenen Purpurhals
Und der glotzenden Augen Gegleiß
Erwartet die heilige Hand, die geführt
Den Dieb ins Paradeis;
Denn ein gebrochenes, reuiges Herz
Der Herr nimmer von sich weist.

Der Mann in Roth, der die Gesetze verliest,
Gab ihm drei Wochen Frist,
Drei kleine Wochen, damit in der Zeit
Seine Seele er heile von ihrem Zwist
Und wasche die letzte Spur von Blut
Von der Hand, die der Stahl entweiht.

Und er wusch sie in blutiger Thränenflut,
Die Hand, die entweihte der Stahl;
Denn Blut allein kann löschen Blut,
Und Thränen allein machen Unheil gut;
So wurde aus Kains grellrothem Mal
Das schneeweiße Siegel des Christ.

SIGBJÖRN OBSTFELDER.
Von GUNNAR HEIBERG (Paris).

Obstfelder steht in der norwegi-
schen Kunst neben dem Maler Munch
und dem Bildhauer Vigeland. Sie be-
wohnen eine Insel für sich. Traurig, er-
füllt vom Leben, vor allem vom Schmerz
des Lebens, stehen die Drei da; erfüllt
davon, wie sonderbar das Leben ist, wie
mystisch es ist, geboren zu sein; stehen
wachsam, gespannt horchend, ob die
Lösung des Räthsels sich aus der Natur
enthüllen werde; stehen, wie auf den Tod
vorbereitet. Ihr Eigenartiges konnten sie
von niemandem lernen. Denn nicht die
äußere Natur ist es, die sie interessiert,
sondern der Kern der Dinge. Kunst und
Leben sind eins für sie. Sie können sich
nicht spalten. Ihre Kunst sind Blutstropfen,
die sich aus ihrem Leben hervorpressen.
Was sie geben, ist immer erlebt. Ihre
Seele geben sie unmittelbar, die äußere
Natur nur mittelbar.

Munch sieht quer durch die Dinge.
Sein Blick ist grausam, unerbittlich, wie

der eines jungen Imperators. Vigeland ist
von Mitleid mit den Menschen erfüllt.
Ihre Freuden sind nicht die seinigen, aber
ihre Leiden. Obstfelder betrachtet die
Menschen aus größerer Entfernung, freier.
Sein Mitgefühl reicht an die Freuden,
welche Gedankensiege, Schönheit und
Zusammenhang den Menschen geben.

Es ist schwer, zu entscheiden, wer
von beiden der größere Künstler ist, Munch
oder Obstfelder. Obstfelder aber ist als
Mensch, als Geist reicher. Er denkt klar,
er empfindet musikalisch. Seine wunder-
vollen Symphonien »Liv« und »Die Ebene«
haben diese Klarheit, diese musikalische
Empfindung. Sie haben die weichsten
Töne, die je in norwegischer Poesie er-
klungen sind, und doch sind diese Gedichte
in Prosa so sicher in der Form, so klar
und voller Verständnis für die Menschen,
so voll von dem Bewusstsein, dass Freude
Schmerz gebären kann und dass aus dem
Leiden ein Trost, ein großer, befreiender

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 349, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-20_n0349.html)