Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 348

Aus der Ballade des Stockhauses zu Reading (Wilde, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 348

Text

WILDE: BALLADE DES STOCKHAUSES ZU READING. V.

Ich weiß nicht, ob das Gesetz gerecht,
Ob ungerecht es ist;
Wir im Gefängnis wissen nur,
Dass fest die Mauer ist,
Und dass jeder Tag wie ein Jahr hinfließt,
In dem jeder Tag endlos ist.

Doch weiß ich gut, dass jedes Gesetz,
Das Mann geschmiedet für Mann,
Seit der Erste mit Bruderblut sich hat
benetzt,
Und die traurige Welt begann,
Das gute Korn in alle Winde nur hetzt
Und die Spreu hält emsig beisamm’.

Noch eines weiß ich — und weise wär’s,
Wenn jedermann es ahnte —
Ein jedes Gefängnis, das Menschen gebaut,
Ist gebaut mit Quadern der Schande
Und mit Eisen verrammelt, damit Christ
aus seinen Himmeln
Nicht sehe, wie Menschen ihre Brüder
verstümmeln.

Mit Eisen das freundliche Mondlicht sie
entstellen
Und blenden die gütige Sonne,
Und sie thun recht, zu verbergen ihre Höllen,
Darinnen Dinge geschehen,
Die weder Gottes noch des Menschen
Sohn
Jemals dürfte sehen!

Wie giftige Saaten die feigsten Thaten
Schießen auf in der Stockhausluft,
Und was da Edles war im Menschen,
Verdorrt und es bleibt der Schuft;
Die bleiche Angst hütet das schwere Thor,
Verzweiflung steht als Schildwach’ davor.

Denn sie lassen verhungern das verschüch-
terte Kind,
Bis es sich weint die Augen blind;
Und sie geißeln den Schwachen und
peitschen den Narren
Und verhöhnen den Greis in grauen Haaren,
Und manche werden toll und schlecht
werden alle,
Und keiner lässt ein Wort nur fallen.

Jede enge Zelle, in der wir verweilen,
Ist eine stinkende, dumpfe Latrine,
Der verpestete Hauch des lebendigen Tods
Erstickt die gequälten Sinne,
Und alles zerbricht, bloß die Gierde nicht,
In der elenden Menschenmaschine.

Das Brackwasser, das man zu trinken kriegt,
Schlüpft schleimig die Kehle hinunter,
Das kalkige Brot, das so sorgsam man
wiegt,
Steckt voll Kreide und riecht nach Zunder,
Und der wildäugige Schlaf ist weit,
Und jeder brüllt auf zu der Zeit!

Doch mag des Hungers Skelett und der
grüne Durst
Wie Viper und Natter in dir sich be-
kriegen,
Du fragst nicht viel nach der Kerkerkost,
Denn was dich tödtet mit Flammen und
Frost,
Ist, dass jeder Stein, den bei Tag du hobst,
Bei Nacht auf dein Herz kommt zu liegen.

Mit steter Mitternacht im Gehirn
Und Zwielicht in der Zelle,
So dreht an der Kurbel, zupft an dem Seil
Ein jeder in seiner Hölle,
Und das Schweigen ist viel schrecklicher
noch,
Als eherner Glocken Gebelle.

Und nie naht eine menschliche Stimme dir,
Zu sagen ein gutes Wort,
Und das Auge, das hinter der Luke erflirrt,
Ist erbarmungslos und hart;
Und vergessen von allen, verfallen, ver-
fallen
Körper und Seele, fort und fort.

So rosteten wir an des Lebens Ketten,
Entwürdigt und allein;
Und mancher fluchte oder schluchzte wild,
Und mancher ließ es sein;
Doch Gottes ew’ges Gesetz ist mild
Und bricht das Herz von Stein.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 348, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-20_n0348.html)