Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 347

Aus der Ballade des Stockhauses zu Reading (Wilde, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 347

Text

WILDE: BALLADE DES STOCKHAUSES ZU READING.

Mit Grimassen und Spässen, so nahten sie,
Die zärtlichen Irrwische, Hand in Hand,
Rund herum im gespenstischen Rund
Drehte sich die Saraband,
Und die verdammten Grotesken schlangen
Arabesken,
Wie der Wirbelwind in den Sand!

Mit Pirouetten wie Marionetten
Hüpften sie auf gespitzten Zehen,
Doch wie Flöten der Furcht in die Ohren
klang
Ihrer Maskenflitter Wehen,
Und sie sangen laut und sie sangen lang,
Um zu wecken die Todten mit ihrem Gesang.

»Oho!«, so sangen sie, »die Welt ist
groß,
Doch gefesselte Glieder geh’n lahm!
Und wirfst du die Würfel ein-, zwei-
mal bloß,
So ist das ein edles Spiel,
Doch niemals gewinnt, der da spielt
mit der Sünd
In der Schande geheimem Schloss

Nicht waren aus Luft bloß und eitel Schaum
Diese Wesen, die uns umgaukelten im
Raum;
Für uns Menschen, deren Leben in Ketten
man warf,
Und deren Füße nicht frei durften geh’n,
Bei den Wunden des Christ’! schienen sie
lebende Wesen
Und furchtbar anzuseh’n.

Rundum, im Kreis, im Takte leis’
Walzten sie zu neckischen Paaren;
Mit geziertem Gebaren und verschämtem
Wiegen
Schwebten and’re hinauf und hinab die
Stiegen,
Und mit zärtlichem Blick und feinem Spott
Belauschten sie unsere Zwiesprach’ mit
Gott.

Der Morgenwind begann sich seufzend zu
erheben,
Doch es war noch Nacht ringsum;
Auf dem riesigen Webstuhl das mächtige
Weben,

Der Schatten zu Ende sich spann;
Und während des Betens erfüllte ein Beben
Uns vor der Justiz der Sonne.

Der klagende Windhauch umheulte laut
Die ächzenden Kerkermauern;
Und wie ein kreisendes Zahnrad von Stahl
Kamen die Minuten, uns zu durchschauern;
O klagender Wind! hatten wir verdient
Solch grausamen Seneschall?

Und endlich sah ich, wie auf der kalk-
weißen Wand
Gegenüber dem harten Bett
Der Schatten des Fenstergitters erstand,
Wie bleierne Kreuze dorthin gestellt;
Da wusst’ ich, dass irgendwo auf der Welt
Gottes schreckliche Dämmerung war auf-
geflammt.

Um sechs Uhr reinigten wir unsere Zellen,
Um Sieben war alles still,
Doch von eines riesigen Flügels Wellen
Schien das ganze Stockhaus erfüllt,
Denn der Todesengel mit eisigem Hauch
War eingetreten, zu tödten.

Er kam nicht daher in Purpur erlaucht,
Noch ritt er einen mondweißen Zelter;
Drei Ellen Strick und ein Schiebebrett
Ist alles, was der Galgen braucht;
Mit dem Schandenstrick in des Mantels Falten
Kam der Herold, seines Amtes zu walten.

Wir waren wie Menschen, die durch ein
Moor
Von ekligem Dunkel sich vorwärtstasten,
Nicht wagten wir mehr, wie Stunden zuvor,
Unser Herz durch Gebet zu entlasten;
Etwas war todt in jedem von uns,
Und dies Todte war: das Hoffen.

Denn der Menschen grimme Gerechtigkeit
Weicht nicht ab vom geraden Wege;
Sie trifft den Schwachen, trifft den Starken
In unerbittlicher Fehde;
Mit eiserner Ferse zerschmettert sie ihn,
Ihren Vater, den Starken, die Mörderin!

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 347, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-20_n0347.html)