Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 346

Aus der Ballade des Stockhauses zu Reading (Wilde, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 346

Text

WILDE: BALLADE DES STOCKHAUSES ZU READING.

Gar mancher liebt zu wenig, gar mancher
zu viel,
Der kauft und jener verschachert;
Der eine mordet mit Thränen viel,
Der andere ohne Seufzen;
Denn jeglicher mordet sein Liebstes auf
Erden,
Doch jeder muss dafür nicht sterben.

Er muss nicht sterben des Todes voll
Schmach
An dem Tage des finstern Gerichts,
Ihm baumelt kein Strick um das bloße
Genick,
Kein Tuch verhüllt sein Gesicht;
Auch fühlt er nicht fallen durch leeren Raum
Der zuckenden Füße Gewicht.

Er sitzt nicht mit der stummen Wacht,
Die zu jeglicher Frist ihn umspäht;
Wenn Weinen ihn ankommen will,
Oder ein leises Gebet;
Die sein Leben bewacht bei Tag und Nacht,
Damit er’s dem Kerker nicht entwende.

Er fährt nicht auf im Morgengrau’n
Und sieht bevölkert die Wände
Von Phantomen: dem Kaplan im weißen
Ornat,
Dem gestrengen Sheriff, bleich wie Wachs,
Und dem Gouverneur im schwarzen Staat
Mit der Miene des Jüngsten Tags.

Er springt nicht auf in kläglicher Angst
Und zieht an sein letztes Gewand,
Und bemerkt den Arzt, der mit gierigem
Blick
Seine Hast umpresst, und in dessen Hand
Die Uhr ihr gleichmüthiges Getick
Wie grässliche Hammer fallen lässt.

Er kennt ihn nicht, den eklen Durst
In der Kehle, wie Sand so seicht,
Bevor der Henker mit behandschuhter
Faust
Über die Schwelle schleicht
Und rasch anlegt die drei ledernen Schnüre,
Auf dass die Kehle keinen Durst mehr
verspüre.

Er neigt auch nicht sein Haupt und hört,
Wie sie die Protokolle verlesen,
Noch tragen sie ihm auf den furchtbaren
Wegen
Seinen eigenen Sarg langsam entgegen,
Während sein Erstarren allein ihn belehrt,
Dass er noch zu den Lebenden gehört.

Nicht lugt er noch einmal zum Blau empor
Durch ein kleines Dach von Glas,
Noch betet er mit Lippen von Thon,
Das nur jetzt ihn Gott nicht verlass’!
Auch fühlt er nicht auf der erschauernden
Stirn
Den Kuss des Kaiphas.

III.

Die Wächter auf ihren Filzsohlen und
Socken
Kamen an die verriegelten Thüren ge-
schlichen
Und lugten durchs Gitter und sahen
verstohlen
Die grauen Gestalten am Boden hocken
Und frugen sich starr, wie’s denn möglich war,
Dass da Männer beteten, die nie noch gebetet.

Wir Narren knieten die ganze Nacht
Im Gebet für einen Cadaver!
Die schwanken Federn der Mitternacht
Waren die Büsche am Leichenwagen;
Und wie bittrer Wein auf einem Schwamm
War der Geschmack unsrer reuigen Scham.

Der graue Hahn krähte, der rothe Hahn
kräht’,
Doch nimmer kam der Tag;
Im Winkel bei Jedem, der kniet’ im Gebet,
Ein Schatten des Schreckens lag;
Und jeder Alb, der nachts nur wacht,
Aufstand vor uns und tanzt’ und lacht’.

Sie glitten entlang, gar flink und schlank,
Wie Wandrer durch neblige Gassen,
Sie äfften den Mond im Rigaudon
Und konnten sich vor Possen nicht
lassen,
Und mit höfischen Schritten, gar graus-
lich und fein,
Flogen sie von allen Seiten zum Stell-
dichein.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 346, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-20_n0346.html)