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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 350

Text

HEIBERG: SIGBJÖRN OBSTFELDER.

Hauch zu entströmen vermag. In seiner
Liebesgeschichte »Das Kreuz«, sowie in
seinem hinterlassenen »Tagebuch eines
Priesters« hat der Ernst eine Milde, die
jenseits der Bitterkeit Munchs und der
stummen Anklagen Vigelands liegt. Kein
Urtheil über Menschen, Schicksal oder
Götter. Nur das rothe Blut der Menschen
fließt darin. Was kann der Mensch dafür,
dass er so oder so ist? Oder kann ein
anderer etwas dafür? Was wissen wir,
dass wir wagen dürften, zu verurtheilen?
Der Dichter weiß nur, dass ihm die
Menschen am liebsten sind, die das Leben
am vollsten leben; sie machen ihn reicher,
machen ihm das Räthsel des Lebens
fesselnder, gefährlicher, verlockender,
machen es schwerer und darum vielleicht
anziehender. Sie machen ihm das Leben
selbst schwerer. Und in dies räthselhafte
Leben hinein muss der Dichter wie die
Motte ins Licht. Und wenn er sich ver-
brannt hat, fällt er leuchtend in die Fin-
sternis hinab, vor die Füße der starrenden,
entsetzten Menschen.

Obstfelder hatte viel von Faust in
seiner Natur. Die ewige Wanderlust, den
activen Verstand, den überlegenen, logischen
Sinn, den Hass gegen Nebel im Denken,
Begabung für Philosophie und Mathematik,
Verachtung des Mercantilen, Durst nach
Wissen und vor allem die Religion der
Religionen: den Drang zur Erforschung
des »Warum«, »Wohin« und »Woher«.
Er schrieb »Die rothen Tropfen«, deren
zweiter Act zwischen Odd und Lili voll
Seele und Anmuth ist, wie die schönsten
Scenen zwischen Faust und Gretchen;
einfach wie diese und voll tragischer Ver-
heißung. Wie kein norwegischer Dichter
besaß er Töne, junge, unschuldige Mädchen
zu schildern, Jungfrauen, welche die Sonne
zu wecken anfängt.

Seine schönsten Gedichte erinnern an
Wergeland. Groß an Form, ganz im Ton,
schöpft er alles aus sich selber. Er gibt
uns keine Literatur. Er schildert die Dinge
so, wie er sie fühlt, und man findet das
so selten bei Dichtern, dass es fremd
wirkt. Es ist, als könnte man nicht
glauben, dass es nicht etwas Anderes,
etwas Tieferes bedeuten müsste. Und
gerade, was da steht, ist eben das Tiefste.
Denn es ist aus dem tiefsten Innern

und bringt uns das Höchste, zu dem
das Wesen des Dichters sich emporge-
schwungen hat.

Es ist am heiligen Abend — —:

Ich gieng hinaus auf die Felder.
Unter die Sterne hinaus.
Mein Schatten glitt hin über Schatten
Der todtenarmigen Bäume

Hat je ein Anderer mit einfacheren
Worten eine so große Landschaft ge-
geben, so deutlich, so sichtbar? Ich weiß
keinen Maler, keinen Dichter, der es
schöner gemacht hätte. »Unter die Sterne
hinaus« — als ruhte das Himmelsgewölbe
auf der Erde selbst. Man hat nicht
nöthig, emporzublicken; man geht unter
den Sternen

»Ich sehe den weißen Himmel. Ich sehe
die graublauen Wolken. Ich sehe die blutige
Sonne.

Dies ist also die Welt. Dies also der
Welten Heim.

Ein Regentropfen!

Ich sehe die hohen Häuser. Ich sehe die
tausend Fenster. Ich sehe den fernen Kirch-
thurm.

Dies ist also die Erde. Dies also der
Menschen Heim.

Die graublauen Wolken verdichten sich.
Die Sonne verschwand.

Ich sehe die wohlgekleideten Herren. Ich
sehe die lächelnden Damen. Ich sehe die
gebeugten Pferde.

Wie werden die graublauen Wolken so
schwer!

Ich sehe, ich sehe Ich bin gewiss
auf eine falsche Welt gekommen. Hier ist es
so seltsam «

Hat das Lebenswunder je einen
einfacheren, stilleren Ausdruck gefunden,
ist die Welt mit glänzenderen, erwach-
teren Augen betrachtet worden? Vom
Morgen der Tage bis zur Nacht der
Zeiten gehen die Menschen herum und
sehen, dass es »hier so seltsam ist«. Die
primitiven, naiven Worte passen auf die
Lippen eines Jeden. Obstfelder aber spricht
sie aus. Einfach und ohne Umschreibung.
Diese Worte sind uns so nahe, dass wir
erst eine Weile warten müssen, ehe wir
sie hören und verstehen können. Sie stehen
da, allein, wie eine Säule, und wir stehen
dicht daran. Wir müssen zurücktreten,
um zu sehen, wie einfach und hoch, wie
schlank und jungfräulich sie ist.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 350, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-20_n0350.html)