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Wenn das Schicksal einem Genius
Künstlerschaft auf mehr denn einem Felde
verlieh, nimmt man gewöhnlich an, die eine
Begabung müsse nothwendigerweise der
andern im Wege stehen, und deren volle
Entfaltung hindern. Noch immer wird
die Meinung laut, selbst das Werk des
Michel-Angelo und des Lionardo
sei nicht zur Vollendung gereift, weil un-
gestümer und ruheloser Schöpferdrang
diese Künstler von diesem kaum erreichten
Ziele zu jenem entgegengesetzten peitschte.
Ich lasse die Frage unerörtert, ob das
allgemeine Gerede diesmal nicht einen
Schimmer von Wahrheit birgt; soviel
ist in jedem Falle gewiss, dass solch
doppeltes Streben dem wühlenden Neide
der Thoren und Schwächlinge doppelte
Möglichkeit des Angriffes gewährt. Die
jedes Licht und jeden Frühling hassen,
verkünden unaufhörlich, Sonnen- und
Mondesglanz könne nicht zugleich am
Himmel leuchten; solche Fülle des Stre-
bens müsse sich selbst verzehren; Zeit
und Schaffensglut, dem Werke der einen
Kunst zugewendet, werde dem Wirken
auf benachbartem Gebiet entzogen. Ver-
hasst wird der Menge bald, der nach
einem Wettlauf zum Sieger Gekrönte.
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Dennoch muss sie ertragen, von den
Scheiteln erlauchter Künstler vielfältige
Kronen blitzen zu sehen; jede gewonnen
nach einem Kampf auf anderem Gefilde,
das die Kennerschaft der Besten als des
Meisters eigenstes Herrscherreich pries
Jede Zeit, die nicht ganz ihren Zu-
sammenhang mit der Kunst verloren hat,
greift immer wieder thöricht und leicht-
fertig zugleich nach dem Schlagwort
von dem »bedeutendsten Dichter der
Gegenwart« oder wenigstens (ein bischen
abgedämpft) von der »namhaftesten Er-
scheinung seiner Generation und seines
Landes«. Soll nicht bloße Willkür
eine gewisse Enge des Blickes, Ergebnis
allzu überfeinerter oder völlig mangeln-
der Cultur — dergleichen Werte schaffen,
so müssen wir zunächst entscheiden:
welche Eigenschaften verlangen wir von
dem vollkommenen Poeten? Reichthum
der Motive schätzen wir nicht gering;
doch wird dies keineswegs den Ausschlag
geben. Talente vom Range des Keats
und Coleridge ermangelten seiner völlig;
sie haben gleichwohl die Stufe der Voll-
endung erreicht. Dies aber wird stets
unerlässliche Bedingung des Kranzes
bleiben: das wundervolle Zusammenwirken
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