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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 2, S. 23

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WIENER
RUNDSCHAU

HERAUSGEGEBEN VON FELIX RAPPAPORT

15. JÄNNER 1901

V. JAHRGANG, NR. 2


APHORISTISCHES.
Von CARL HAUPTMANN (Schreiberhau).

Es gibt nicht ein Draußen und
ein Drinnen. Es gibt nur ein Sein in
Einheit. Und jedes Wesen und Ding
ist Ganzheit und Theil — und wo es
aus einer Einheit ausfällt, fällt es in
die andere hinein. Und Keiner kann
aus seiner Einheit fallen, er sänke
denn in die Einheit der Welt zurück.

Man muss von innen nach außen
lernen. Die meisten lernen von außen
nach innen. Meister und Stümper.

Je selbstvergessener du ein Wesen
oder Ding künstlerisch ergreifst und
immer inniger ergreifst, um endlich
auszudrücken, wie du es fühlst, desto
reiner stellst du dich selber dar. Nie
kann in der Menschenseele Natur bloß
Natur bleiben, es handelt sich immer
um eine wahre Vermählung, aus der
das Kunstwerk keimt. Je reiner ge-
brochen Wesen und Dinge aus deinem
Ich strahlen, desto mächtiger tragen
sie den Stempel deines Geistes und
Wesens unwissentlich und unwillent-
lich. Erfüllt deine Seele nur ganz die

reinste Hingabe und Ansicht des Gegen-
standes, dann strahlt das Werk erst
rein und voll Kraft und Eigenart deiner
Person. Es ist wie in der Liebe. Du
bekommst nur dort den reinsten Glanz
deines Ichs zurück, wo du dein Ich
am leidenschaftlichsten verlierst.

Den kleinen Unterschied des Wesens,
den man »Ich« nennt, kann man ruhig
vergessen um der echten Persönlichkeit
willen, die stets Werk und nicht »Ich«
ist. Die Egoisten betonen ihr »Ich«.
Die wahren Individualisten aber suchen
— mit der nachdrücklichen Kraft des
Egoisten — That und Werk. Jene
jagen Launen und Genüssen nach;
diese der muthigen Darstellung des
höchsten, eigenen, menschlichen Werkes.
Jene lassen sich gehen und thun das
Bequeme; diese ringen in männlicher
Zucht vorwärts und gewinnen in Arbeit
die Darstellung vollkommener Mensch-
heitsmaße.

In einem System von Zeichen und
Worten sitzen wir, wie die Spinnen im

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 2, S. 23, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-02_n0023.html)