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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 421

Text

WIENER
RUNDSCHAU

HERAUSGEGEBEN VON FELIX RAPPAPORT

15. DECEMBER 1900
IV. JAHRGANG, NR. 24

IM HAUSE DES RICHTERS.
Von OSCAR WILDE .

Und es war Schweigen im Hause
des Richters — Und der Mensch stand
nackend vor Gottes Angesicht — Und
Gott öffnete des Menschen Lebensbuch
— Und Gott sagte zu dem Menschen:
Übel war dein Leben — Du warst grau-
sam gegen den Bedürftigen und hart
und bitter gegen Den, der Hilfe suchte.
Der Arme rief dich und du gabst ihm
kein Gehör, und dein Ohr verschloss
sich dem Wehruf meiner Betrübten.
Das Erbe des Vaterlosen nahmst du dir
zu eigen, und hetztest die Füchse in
deines Nachbars Feld. Du nahmst des
Kindes Brot und gabst es den Hunden
zum Fraße, und meine Aussätzigen, die
in dem Marschland friedsam lebten und
mich priesen, jagtest du auf die Heer-
straße, und auf meiner Erde, aus der
ich dich gemacht, vergossest du un-
schuldiges Blut — Und der Mensch
antwortete und sagte: Also that ich —
Und wieder öffnete Gott des Menschen
Lebensbuch — Und Gott sagte zu dem
Menschen: Übel war dein Leben —
Und der Schönheit, die ich geoffenbart,
jagtest du nach, und an dem Guten,
das ich verborgen, giengst du vorüber.
Die Wände deines Gemaches waren
bemalt mit Bildwerk, und von dem

Lager deiner Verderbnis erhobst du
dich bei Flötenschall. Du errichtetest
sieben Altäre den Sünden, die ich er-
litten, und aßest von Dem, was nicht
gegessen werden sollte, und der Purpur
deines Gewandes war bestickt mit den
drei Zeichen der Schmach. Deine Idole
waren nicht von Gold oder Silber, das
bestehet, sondern aus Fleisch, das ver-
gehet. Du besprengtest ihre Haare mit
Wohlgerüchen und legtest Granatäpfel
in ihre Hände. Du färbtest ihre Füße
mit Safran und breitetest Teppiche vor
ihnen aus. Mit Antimon bestrichst du
ihre Augenlider und ihre Leiber mit
Myrrhen. Du bücktest dich zur Erde
vor ihnen, und deiner Götzen Throne
erhobst du in die Sonne. Du zeigtest
der Sonne deine Schmach und dem
Mond deinen Wahnsinn — Und der
Mensch antwortete und sagte: Also
that ich — Und zum drittenmale
öffnete Gott des Menschen Lebensbuch,
und Gott sagte zu dem Menschen: Übel
war dein Leben — Die Hände, die dich
genährt, hast du verwundet, und die
Brust, an der du gesogen, verachtet.
Der zu dir kam mit Wasser, gieng
von dir durstend, und den Geächteten,
der dich in seinem Zelte barg, ver-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 421, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-24_n0421.html)