Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 401

Gedanken über ein Drama Björnsons (Gumppenberg, E. Freiin von)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 401

Text

WIENER
RUNDSCHAU

HERAUSGEGEBEN VON FELIX RAPPAPORT

1. DECEMBER 1900
IV. JAHRGANG, NR. 23

GEDANKEN ÜBER EIN DRAMA BJÖRNSONS.
Von E. FREIIN VON GUMPPENBERG (München).

Ich habe B. Björnsons Drama »Über
unsere Kraft« mit wachsendem Interesse
gelesen, doch als ich das Büchlein nieder-
legte, schien mir die angeregte Frage:
»Was ist Christenthum?« von solcher
Bedeutung, dass ich den Versuch wagen
möchte, zu deren Lösung einige Gedanken
beizutragen.

Wenn wir Dinge, die der Ewigkeit
angehören, aus den uns sichtbaren Wir-
kungen eines kleinen Zeit-Atoms beurtheilen
wollen, ist es mir immer, als wollte man
die Wunder des Lebens, die der Grund
des Meeres birgt, aus einer mikroskopischen
Untersuchung des Schaumes erkennen, den
es ans Ufer schleudert. — Kann wohl
der »Glaube« eines denkenden Menschen
etwas anderes sein, als seine Überzeugung,
die Form und Gestalt annimmt als Er-
gebnis seines individuellen, metaphysischen
Bedürfnisses, das er vor das Kriterium
seiner erwachten Seele stellt? Ich weiß
es, dieser Begriff wird oft anders definiert,
und man nennt »Glauben« das starre
Festhalten an der Lehre einer Confession;
das Ergebnis des metaphysischen Be-

dürfnisses des Nebenmenschen hingegen
— wenn es sich nicht in allen Theilen
mit eigener Überzeugung deckt — Irr-
thum und Unglaube. Das ist die Defi-
nition solcher Menschen, die noch an
Sonderstellungen glauben — an die Son-
derstellung unserer kleinen Erde im un-
ermesslichen Universum, an die Sonder-
stellung einer Confession oder Glaubens-
lehre, die sie als allein seligmachend be-
trachten, und vielleicht gar noch an die
Sonderstellung ihrer Person, die in der
halb unbewussten Empfindung gipfelt:
»Herr, ich danke dir, dass ich nicht so
bin wie Jener hier!« Diese müssen wir
der heilenden, reifenden Zeit überlassen!

Jene aber, die eine große Einheit und
verbindende Solidarität alles Lebens ahnen
oder davon überzeugt sind; Jene, die da
wissen, dass unsere Erde innerhalb der-
selben großen, führenden Gesetzeswelt steht,
wie das ganze sichtbare und unsichtbare
Universum; Jene, die wissen, dass es keine
»Hölle« geben kann, weil damit der
Begriff »Himmel« aufhören würde, zu sein;
Jene, die in dem Glauben oder in der

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 401, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-23_n0401.html)