Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 404

Gedanken über ein Drama Björnsons Der Student (Gumppenberg, E. Freiin vonTschechoff, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 404

Text

TSCHECHOW: DER STUDENT.

dass es in der großen Gesetzeswelt keine
Widersprüche geben kann und dass all
Das, was uns heute noch Widerspruch
dünkt, da wir nur die unverstandene Wir-
kung schauen, morgen schon von uns
erkannt und empfunden werden kann.

Denn indem wir durch die Erscheinungs-
form in die ihr zugrunde liegende Wahr-
heit dringen, zieht diese unseren Blick in
die große, lebendige Einheit der Vollen-
dung, und diese löst die Räthsel, die ja
nur im Schoße der Zeit gelegen sind.

DER STUDENT.
Aus dem Russischen des ANTON TSCHECHOW.

Das Wetter war schön und ruhig.
Die Drosseln schlugen und etwas Lebendes
summte bei den Sümpfen, kläglich, als
würde man in eine leere Flasche blasen.
Eine Waldschnepfe strich dahin, und ein
Schuss, der ihr nachgesandt wurde, rollte
lustig durch die Frühlingsluft. Als es im
Walde dunkelte, fiel aus dem Osten ein
kalter, durchdringender Wind ein. Die
Pfützen überzogen sich mit Eiskrusten
und es wurde ungemüthlich, unwirtlich
und menschenleer im Walde. Es roch nach
Winter

Ivan Welikopolsky, Student der geist-
lichen Akademie, der Sohn des Kirchen-
vorsängers, gieng nach Hause. Er gieng
fortwährend auf dem Pfade, der über die
Heuwiese führte. Seine Finger waren
steif, sein Gesicht brannte vom Wind.
Es schien ihm, dass die unerwartet ein-
getretene Kälte überall die Ordnung und
den Frieden zerstörte, dass selbst der
Natur bangte, und deshalb die Abend-
dämmerung rascher, als sie sollte, einge-
fallen sei. Ringsumher war es öde und
eigenthümlich düster. Nur beim Fluss,
auf den Gemüsegärten der Witwen, sah
man Licht. Weit im Umkreis und auch
dort, wo das Dorf lag, etwa vier Werst,
war alles in kaltes Abenddunkel ver-
sunken. Der Student erinnerte sich an
seine Mutter, die, als er von daheim
weggieng, barfuß im Hausflur auf dem
Fußboden saß und den Samovar putzte.
Der Vater lag auf dem Backofen und
hustete. Anlässlich des Charfreitages war
zu Hause nicht gekocht worden und der
Hunger quälte. Wie sich jetzt der Student
vor Kälte zusammenkrümmte, dachte er

daran, dass zur Zeit des Riurik, zur Zeit
Johann des Grausamen, zur Zeit des
Peter ein ebensolcher Wind geweht hatte
und dass es auch zu ihrer Zeit eine
ebenso schreckliche Armut gab, solchen
Hunger, ebensolche zerfetzte Strohdächer,
Unwissenheit, Kummer, eine ebensolche
Wildnis ringsum, Finsternis, ein Gefühl
der Beängstigung — — Alle diese
Schrecken waren, sind und werden sein.
Und er dachte an die Thatsache, dass
noch tausend Jahre verstreichen und das
Leben nicht besser werden wird. Und er
wollte nicht nach Hause.

Die Gemüsegärten der Witwen nannte
man sie deshalb, weil sie von zwei
Witwen, Mutter und Tochter, gepachtet
waren. Heiß und krachend brannte der
Holzstoß und beleuchtete weit umher das
geackerte Feld. Die Witwe Wassilissa,
eine große, aufgedunsene, alte Frau in
einem Männer-Halbpelz, stand daneben und
schaute nachdenklich in das Feuer. Ihre
Tochter Lukerja, eine kleine, blatternarbige
Frau mit einem stumpfsinnigen Gesicht,
hockte auf der Erde und wusch den
Kessel und die Löffel. Offenbar hatte man
soeben das Abendbrot gegessen. Man
hörte Männerstimmen; es waren die
Knechte, welche beim Fluss die Pferde
tränkten.

»Da haben Sie wieder den Winter«,
sagte der Student, während er sich dem
Holzstoße näherte. »Guten Abend!«

Wassilissa fuhr zusammen; aber sie
erkannte ihn bald und lächelte freundlich.

»Grüß’ dich Gott! Ich erkannte dich
nicht.«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 404, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-23_n0404.html)