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Verkünder« — diese Antwort scheint mir
nicht erschöpfend. Die Verkünder einer
Lehre sind meist die Kinder ihrer Zeit,
und wer den Stempel der Zeit trägt, kann
oft das Ewige nicht fassen. Sangs Frage:
»Was beweist das?« möchte ich so zu
beantworten suchen: Es beweist nur, dass
die Vollendung (und mit dieser müssen
wir wohl das tausendjährige Reich identi-
ficieren) längerer bildender Zeiten bedarf,
als deren über unsere Erde gegangen,
und dass das Ausleben der Ideale des
Christenthums eine vorgeschrittenere Ent-
wicklung verlangt, als die Menschheit
heute erreicht hat.
Der Einwurf Rahels: »Passen diese
Ideale noch heutzutage so wenig zu den
Verhältnissen und den Anlagen der
Menschen, so mögen sie wohl auch nicht
von dem Allwissenden stammen« — —
ist daher die Äußerung eines Menschen,
der noch nicht soweit in die Atmosphäre der
Klarheit vorgedrungen ist, dass er Ursache
und Wirkung (zugrunde liegende Wahrheit
und uns sichtbar werdende Erscheinungs-
form derselben) zu unterscheiden vermag.
Kann absolute Wahrheit sich den immer
wechselnden Verhältnissen und Anlagen
der Menschen anpassen? Muss nicht das
Absolute ewig unveränderlich sein; es
wäre doch sonst nicht mehr das Absolute?
Muss nicht vielmehr das Unentwickelte:
die Menschheit, durch alle Kreise relativer
Wahrheit hindurch, um einmal (und
was sind Jahr-Millionen auf solcher Ent-
wicklungsbahn?) diese absolute Wahrheit
zu erreichen und in diesem Lichtkreis
Stillstand ohne Stagnation, also Vollendung
zu finden? Auf Rahels Frage: »Ist Christen-
thum Das, was von Millionen nur Einer er-
reichen kann?« möchte ich daher (Christen-
thum mit Wahrheit identifizierend) ant-
worten: »Es ist Das, was heute von
Millionen nicht Einer erreichen kann«;
denn wer von uns dürfte zu sagen wagen:
Ich schaue die Vollendung, ich stehe im
Absoluten? — Nur das kindliche Lallen
der Unwissenheit vermag solche Worte
auszusprechen.
Doch, ist der sonnige Süden nur ein
Traum, weil »heute« noch weite Meere
zwischen ihm und dem Zugvogel liegen?
Und nun zum Schlusse. Wie kam es,
dass Sang in seinem Glauben und in seiner
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Arbeit Schiffbruch erleiden musste, wenn
Christenthum Wahrheit ist, wenn Christus
gesagt hat: »Größere Werke als diese
werdet ihr thun?« Was ist wohl ein
»Wunder?« Kann es etwas anderes sein,
als die sichtbare Wirkung höherer Ge-
setze, denen die niederen, d. h. materiellen
Gesetze unterstehen müssen? Sagte nicht
Christus: »Ich komme nicht, das Gesetz
aufzuheben, sondern es zu erfüllen?« Kann
es eine Wirkung geben, die nicht ein ihr
zugrunde liegendes Gesetz hätte? Sollten
sich göttliche Gesetze von Einzelnen um-
stoßen lassen, so würde sich doch der
Begriff »Gesetz« aufheben und Willkür
würde an dessen Stelle treten. Ist aber
die zugrunde liegende Kraft, die scheinbar
gesetz-aufhebende Dinge möglich macht,
und für die wir daher die Bezeichnung
»Wunder« haben, ist diese zugrunde lie-
gende Kraft nur das Wirken eines höheren
Gesetzes, das an die Stelle eines niederen
tritt und folglich dessen Wirkung aufheben
muss, so haben wir uns eine weitere
Seite aufgeschlagen in dem großen, leben-
digen Buche, das die Lösung aller Räthsel
enthält. Zuerst aber fällt unser Auge auf
die sichtbare Schrift des Buches; noth-
wendige Vorbedingung ist es also, dass
unser Intellect den Geist und die Wahr-
heit dieser sichtbaren Offenbarung erfasse.
Das »Wunder« ist also nicht der
Cul-
minationspunkt
des Christenthums
und nie um seiner selbst willen
anzu-
streben. Wer den Geist Christi nicht fassen
kann, wird um der Wunder willen, die sein
materielles Auge schaut, Christus nicht näher
gebracht. Er läuft im Gegentheil Gefahr,
Nebensächliches an Stelle der Hauptsache zu
setzen. Wer aber im Geiste Christi lebt,
der nähert sich der Zeit, wo auch er,
zum Meister geworden, dem Wind und
den Wellen, dem Leiden und der Krank-
heit gebieten wird; denn er ist Herr über
Größeres geworden — das schließt die
Herrschaft über Geringeres ein. Schneller
herbeiführen können wir diese Zeit wohl
nur, indem wir der heute erkannten Wahr-
heit leben, in Gedanken, Wort und That.
Indem wir werden, erweitert sich der
Kreis, den wir schauen. Die Farben, die
uns getrennt und unvereinbar schienen,
verblassen, und wir erkennen staunend,
dass sie nur gebrochenes Licht gewesen,
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