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Überzeugung ihres Nebenmenschen eine
der Erscheinungsformen seiner individuellen
Entwicklung sehen, diese werden ihrem
Glauben leben müssen wie Björnsons
Sang; denn indem die Sonderstellung
fällt und die verbindende Einheit erkannt
und empfunden wird, lösen sich die Wider-
sprüche in der Seele des Menschen —
und er stellt sich mit allen individuellen
Kräften in den Kraftstrom, der das Uni-
versum erfüllt und der es aus dem Chaos
in die Entwicklung, durch die Entwicklung
zur Vollendung bringt. So ein Mensch
ist ein »Christ«, selbst wenn er den Namen
und die Lehre Christi nie vernommen
hätte.
Wenn der Urgrund alles Lebens Weis-
heit ist, so ist die ganze Gesetzeswelt,
von der wir nur einen so geringen Theil
zu erkennen vermögen, der Ausfluss dieser
Weisheit; und dann ist Wahrheit alles,
was uns infolge unserer momentanen Ent-
wicklungsstufe von diesem Urgrund alles
Seins geoffenbart werden kann. Das Ur-
leben muss ewig unveränderlich sein; aber
da unsere Erkenntnismöglichkeit durch
unsere Entwicklung bedingt ist, muss die
Offenbarung, die uns wird, dieser Erkennt-
nismöglichkeit angepasst sein. Die reine
Lehre Christi ist wohl das Höchste, was
uns bisher gegeben wurde; doch weisen
seine eigenen Worte darauf hin, dass da-
mit die Offenbarung noch nicht abge-
schlossen ist: »Ich habe euch noch vieles
zu sagen, aber ihr könnet es jetzt nicht
tragen. Wenn aber jener Geist der
Wahrheit kommt, der wird euch alle
Wahrheit lehren«.
Sind nicht heute noch so viele Fragen
ungelöst, so viele Gesetze noch unentdeckt,
dass wir uns sagen müssen, der Geist der
Wahrheit hat sich, unserer Entwicklungs-
stufe gemäß, noch nicht in seiner ganzen
Tiefe offenbaren können — und müssen
wir also nicht sagen, dass das Wort Christi
heute noch gilt? Und hat nicht doch das
ganze geistige Leben unserer Welt sich
soweit entwickelt, dass wir wagen dürfen,
zu sagen: wir sind der Erkenntnis einer
alle Widersprüche lösenden Wahrheit heute
näher als vor zweitausend Jahren? Und
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was ist das Zeit-Atom von zweitausend
Jahren in der Entwicklung einer Welt?
Ich halte dafür, dass die reine Lehre Christi
jenen Theil der göttlichen Wahrheit ent-
hält, der uns zu großen, guten, edlen
Menschen machen muss, wenn wir dieser
Lehre leben; sind wir aber groß und
gut geworden, so ist die nothwendige
Bedingung, mehr von dieser ewigen Wahr-
heit erhalten zu können, vollkommen er-
füllt. »Wer hat, dem wird gegeben
werden!«
Ist also der Urgrund alles Lebens
Weisheit und nicht blinde Kraft, so muss
sich diese Weisheit stets dem erwachenden
geistigen Leben nach der Erkenntnisstufe
seiner Entwicklung offenbaren. Wie ist es
daher möglich, dass denkende Menschen,
wie Sangs Kinder* irre werden an der
Wahrheit der Christlehre, weil dieselben
Wahrheiten, in etwas anderer Form und
Gestalt, schon in den indischen und
egyptischen Religionslehren durchleuch-
teten? Ist das nicht vielmehr ein Beweis,
dass stets für das geistige Bedürfnis der
Menschheit gesorgt worden ist, dass der
Suchende stets gefunden hat, der Denkende
stets zu jenem Schlusse kommen konnte,
der seiner intellectuellen Entwicklung ent-
sprach? Und muss es nicht so sein?
Eine Wahrheit kann nicht an eine Zeit
gebunden sein, weil Absolutes nicht an
Relatives, wie es die Zeit ist, gebunden
sein kann. Sind daher Christi Worte:
»Wer sucht, der findet; wer klopft, dem
wird aufgethan« die Offenbarung eines
ewigen Gesetzes, so muss die Erde,
wie jede andere Welt, zu jeder Zeit
diesem Gesetz unterstehen und unterstanden
haben — und die Wahrheit muss immer
das Licht in jeder Farbe gewesen sein.
Sangs Antwort: »Als ob das tausend-
jährige Reich nicht ebensosehr eine Wahr-
heit wäre, auch wenn es ein uralter
morgenländischer Traum ist. Hat es so-
lange auf sich warten lassen, dass schwache
Gemüther es einen unmöglichen Traum
zu nennen wagen, und die Forderungen,
welche dahin führen, unmögliche Ideale —
was beweist das? Doch nichts gegen die
Lehre, vielleicht vieles in Betreff ihrer
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