Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 405

Der Student (Tschechoff, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 405

Text

TSCHECHOW: DER STUDENT.

Sie sprechen ein bischen. Wassilissa,
eine erfahrene Frau, welche einst bei der
Herrschaft als Amme und dann als
Kinderfrau gedient hatte, redete gewählt,
und ein reiches, ernstes Lächeln wich
nicht von ihrem Antlitz. Ihre Tochter
Lukerja aber, ein von ihrem Manne ver-
prügeltes Dorfweib, schielte nur auf den
Studenten und schwieg. Ihr Gesicht
besaß den einer Taubstummen eigen-
thümlichen Ausdruck.

»In einer ebenso kalten Nacht wärmte
sich der Apostel Petrus,« sagte der Student,
indem er seine Hände zum Feuer streckte.
»Da war es also damals auch kalt. Ach,
Mütterchen, was das für eine schreckliche
Nacht war! Eine überaus trübe, lange
Nacht!«

Er schaute in die Finsternis hinein,
erhob nervös den Kopf und sagte: »Du
warst wohl bei den zwölf Evangelien-
Messen?«

»Ich war,« sagte Wassilissa.

»Wenn du dich erinnern kannst —
während des Abendmahles Christi sagte
Petrus zu Jesus: »Herr! ich bin bereit,
mit dir in den Kerker und in den Tod
zu gehen.« Und Gott antwortete ihm
darauf: »Ich sage dir, Petrus, es wird
heute der Hahn nicht krähen, bevor du
mich dreimal verleugnet hast.« Nach dem
Abendmahl grämte sich Jesus tödtlich im
Garten und betete. Und der arme, in seiner
Seele gemarterte Petrus ward schwach;
seine Augenlider wurden schwer, er konnte
seinen Schlaf nicht bekämpfen. Er schlief.
Dann — du hast es gehört — küsste
Judas Jesus, und verrieth ihn in dieser
Nacht an seine Peiniger. Man hatte ihn
mit gebundenen Händen zum Erzpriester
geführt und ihn geschlagen. Und Petrus,
gemartert, von Gram und Unruhe gequält
— verstehst du —, schlaftrunken, ahnend,
dass etwas Schreckliches auf der Erde vor-
gehen werde, folgte von ferne — — — —
Er liebte Jesus leidenschaftlich, über alles;
und jetzt sah er von weitem, wie man
ihn geißelte.«

Lukerja ließ die Löffel und starrte den
Studenten an.

»Man kam zum Erzpriester,« fuhr er
fort, »Jesus wurde verhört, und zu dieser
Zeit hatten die Knechte einen Holzstoß
angezündet und wärmten sich, weil es kalt

war. Petrus stand unter ihnen beim Holz-
stoß und wärmte sich, wie ich jetzt. Eine
Magd sah ihn und sagte: »Auch dieser
war mit Jesus!« Das hieß: man müsse
auch ihn zum Verhör führen. Und alle
Knechte, die beim Holzstoß waren, schienen
ihn rauh und misstrauisch angeschaut zu
haben, weil er verlegen wurde und sagte:
»Ich kenne ihn nicht.« Und bald erkannte
wieder jemand in ihm einen Jünger Jesus
und sagte: »Du bist auch Einer von Diesen!«
Er leugnete aber wieder. Und ein drittesmal
sprach ihn Einer an: »Warst nicht du es,
den ich heute im Garten gesehen habe?«
Er leugnete zum drittenmale. Und gleich
nach diesemmale krähte der Hahn, und
Petrus schaute von weitem auf Jesus und
erinnerte sich der Worte, welche er ihm
beim Abendmahl gesagt hatte — — —
Er erinnerte sich, wurde nüchtern, gieng
vom Hof und weinte bitterlich. Im
Evangelium ist gesagt: »Er gieng hinaus
und weinte bitterlich.« Ich stelle mir vor:
Einen stillen, stillen, dunklen, dunklen
Garten. Und in dieser Stille hörte man
verhaltenes, dumpfes Weinen — — —«

Der Student seufzte und wurde nach-
denklich. Wassilissa, die immer noch ge-
lächelt hatte, schluchzte plötzlich. Große,
reiche Thränen rannen ihr aus den Augen,
und Lukerja, starr den Studenten ansehend,
erröthete, während in ihr Gesicht ein
schwerer, angestrengter Ausdruck trat, wie
bei einem Menschen, der einen starken
Schmerz verbeißt.

Die Knechte kehrten vom Fluss zurück.
Einer von ihnen, auf dem Pferde sitzend,
kam ganz nahe und das Feuer vom Holz-
stoß zitterte auf ihm. Der Student sagte
der Witwe »Gute Nacht!« und gieng
weiter. Und wieder wurde es dunkel und
es fror ihn in den Händen. Ein scharfer
Wind wehte. Der Winter kehrte wirklich
zurück, und es sah gar nicht aus, als ob
übermorgen Ostern wäre.

Jetzt dachte der Student über Wassi-
lissa nach: Wenn sie geweint hatte, so
stand offenbar alles, was in dieser schreck-
lichen Nacht mit Petrus vorgefallen war,
in gewisser Beziehung zu ihr — — — —

Er sah sich um. Ein vereinzelter
Lichtschein flackerte in der Finsternis auf;
man sah aber keine Menschen neben ihm.
Der Student dachte wieder: Wenn Wassi-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 405, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-23_n0405.html)