Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 406

Der Student Multatuli (Tschechoff, AntonSchlaf, Johannes)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 406

Text

SCHLAF: MULTATULI.

lissa weinte und ihre Tochter verlegen
war, so steht offenbar alles, wovon er
jetzt erzählt hatte und was vor neunzehn
Jahrhunderten geschehen ist, in einer ge-
wissen Beziehung zu der Gegenwart —
zu den beiden Frauen, und wahrscheinlich
auch zu diesem verwilderten Dorfe, zu ihm
selbst, zu allen Menschen. Wenn die Alte
weinte, so war es nicht deshalb, weil er
so rührend erzählen konnte, sondern weil
Petrus ihr nahe war, und weil in ihrem
ganzen Wesen ein mitfühlendes Verständ-
nis für Das lebte, was mit Petrus vorge-
gegangen war.

Und Freude überzog seine Seele. Er
blieb einen Moment stehen, um Athem zu
holen. »Die Vergangenheit«, dachte er,
»ist mit der Gegenwart durch eine un-
unterbrochene Kette von Ereignissen ver-
bunden, die von einander ausgehen«. Und
es schien ihm, als hätte er soeben beide

Enden der Kette gesehen: Er berührte ein
Ende, und das zweite zitterte.

Und als er mit der Fähre den
Fluss übersetzte, bergauf gieng und sein
Heimatsdorf erblickte und den Westen,
wo in einem schmalen Streifen die kalte
Abendröthe leuchtete, da dachte er daran,
dass alles Wahre und Schöne, welches
dort, im Garten und Hof des Erzpriesters,
die Menschenleben geleitet hat, sich un-
unterbrochen bis zum heutigen Tag aus-
dehnt und im menschlichen Leben, auf
Erden überhaupt, offenbar immer die
Hauptsache bildete. Und ein Gefühl von
Jugend, Gesundheit und Kraft — er war
erst zweiundzwanzig Jahre alt — und
eine unbeschreiblich süße Erwartung auf
Glück, auf unbekanntes, geheimnisvolles
Glück durchdrang ihn nach und nach.
Und reizend, wunderbar und voll hohen
Sinnes dünkte ihm das Leben.

MULTATULI.
Von JOHANNES SCHLAF (Berlin).

Multatuli ist das größte Genie und der
bedeutendste Charakter, den die hollän-
dische Literatur dieses Jahrhunderts her-
vorgebracht. Und zwar ist er nicht so sehr
Romandichter, Dramatiker, Lyriker und ge-
nialer Feuilletonist, als vor allem Indivi-
dualität. In dem Sinne, wie heute etwa
Tolstoj vor allem Persönlichkeit ist, wie
vielleicht Ibsen noch bedeutungsvoller als
Persönlichkeit denn als Philosoph, Lyriker
und Wortkünstler erscheint; und wie diese,
so ein Maeterlinck und mit ihnen noch so
mancher andere. Es ist verständlich,
was ich meine, und dass ich mit dem
eben Ausgeführten alles in dem Begriffe
der Persönlichkeit unterstreiche, was in ihr
Activität, und zwar ethische Activität
ist. Denn, obschon wir gerade in den
letzten Jahrzehnten recht viel ästheti-
sierten und auf neue, wohl gar bis daher
unerhörte Kunstformen besonderen Wert
legten, die Zeiten scheinen andere Be-
dürfnisse zu haben, als ein neues, großes
Kunstwerk hervorzubringen. Im übrigen ist

Persönlichkeit ja stets das Wesentliche
und war es immer. Je nach den Zeit-
verhältnissen bethätigt sie sich künst-
lerisch oder in irgendeiner anderen Weise.
Heute vielleicht nicht ohne Analogie zu
den Zeiten des Ausgangs der Antike und
der Geburt des Christenthums; heute, wo
wir uns in dem Zeitalter einer ethischen
»Umwertung der Werte« befinden, drängt
sie vor allem wieder einmal nach ethischer
Bethätigung; da die Presse aber gerade
in unseren modernen Zeiten in bis daher
unerhörter Weise Weltmacht ist, wird die
Literatur und die Wortkunst der ethischen
Persönlichkeit zum vornehmsten Vehikel.
Wie mancher unserer großen neuzeitigen
Romandichter oder Dramatiker würde
sonst vielleicht, wie dies in früheren Jahr-
hunderten der Fall war, Wanderphilosoph
sein! Und noch eins: Irgendwer hat im
Laufe der letzten beiden Jahrzehnte ge-
legentlich einmal ausgesprochen, dass un-
sere moderne Wortkunst im Zeichen des
Feuilletons stehe und sich noch weit

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 406, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-23_n0406.html)