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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 1, S. 14

Text

DER FALL BÜCHNER.
Von DR. HANS LANDSBERG (Berlin).

Eine langjährige Beschäftigung mit
Georg Büchner, über den ich demnächst eine
Monographie zu veröffentlichen gedenke,
gibt mir wohl das Recht, der irrthümlichen
Auffassung und Darstellung Bleibtreus
energisch entgegenzutreten. Dass Büchner
ein Nachahmer und Unempfinder ist,
klingt sonderbar aus dem Munde des
Mannes, der in der Einleitung seines
Dramas »Weltgericht« gegen Büchner
loszog, um in dem Werke selbst bei dem
geschmähten Dichter Anleihen zu machen.
Wenn je ein Dichter voll reiner und
reicher Empfindung war, wenn je einer
seinen Werken den Stempel der eigenen,
freilich noch unausgegorenen Persönlich-
keit aufgedrückt hat, so ist es Büchner.
Er hat in »Dantons Tod« das einzige
Revolutions-Drama geschrieben, das aus
der Fülle ähnlicher Darstellungen sich bis
auf den heutigen Tag lebendig erhalten
hat. Es fand selbst bei den Franzosen die
höchste Bewunderung, und es gereicht
den Deutschen nicht gerade zur Ehre, dass
Büchners Werke in französischer Sprache
offenbar mehr gelesen worden sind, als in
deutscher. Nicht die Literarhistoriker haben
Büchners Bedeutung erkannt — außer
Julian Schmidt hat ihn bisher noch jeder
mit ein paar nichtssagenden Worten ab-
gefunden oder gänzlich todtgeschwiegen —,

es waren vielmehr die Vorkämpfer des
jüngsten Deutschland, wie M. G. Conrad,
Conradi, Bierbaum etc., die sich begeistert
einem jungen Genie zuwandten, das in
seinen — ich wiederhole es — noch un-
reifen Werken sie durch ganz modernes
Fühlen und Denken überraschte. Man
gehe einmal vorurtheilslos an die Lecture
von Büchners Werken, die in den
Dreißigerjahren entstanden sind, und man
wird in der ganzen modernen Literatur
nichts Frischeres, nichts Gegenwärtigeres
finden. Es soll nach Bleibtreu bezeichnend
sein, dass Gutzkow es war, der Büchner
entdeckte. Wenn man weiß, dass der
junge Büchner das Manuscript seines
»Danton« an Gutzkow sandte und eine
begeisterte Antwort empfieng, so ändert
dies doch die Sachlage sehr wesentlich.
Schließlich hat Bleibtreu, von rein äußer-
lichen Gesichtspunkten beeinflusst, das alte
Märchen der Literarhistoriker aufgewärmt:
Büchner dichte à la Grabbe. Hebbel gibt
darauf die einzig richtige Antwort: »Grabbe
und Büchner; der eine hat den Riss zur
Schöpfung, der andere die Kraft.« Und
derselbe Hebbel schreibt über »Dantons
Tod«: »Büchners »Danton« ist herrlich.
Warum schreib’ ich solch einen Ge-
meinplatz hin? Um meinem Gefühl genug
zu thun.«

BÜCHER.

Phantasien eines Realisten. Von
Lynkeus. Dresden und Leipzig. Verlag
von Carl Reissner. 2. Auflage, 1901.

Auf dem Schiffe der Argonauten war
Lynkeus, der Scharfblickende, zum Steuer-
mann bestellt. Denn er hatte die besten
Augen, einen unbestechlichen, in die

Ferne dringenden, jeden Nebel und jede
Dunkelheit spaltenden Blick

Dieser Blick des Lynkeus ist in dem
Buche: »Phantasien eines Realisten«. Es
ist eine Argonautenfahrt durch die ge-
fährliche Welt der menschlichen Leiden-
schaften und die Meeres-Tücken des

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 1, S. 14, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-01_n0014.html)