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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 1, S. 13

Text

DIE APOTHEOSE.
Von A. KOLB (München).

Es gibt Erkenntnisse und Gesinnungen,
die kein Mensch in uns einpflanzte, die
aber so tief in uns haften und so hart-
näckig den Untergrund unseres Seins aus-
machen, dass es scheint, als seien sie mit
uns zur Welt gekommen, weil weder Zeit
noch Erfahrung, noch Enttäuschungen sie
auch nur im geringsten modificieren.

Und eines Tages fühlen wir uns mit
eben diesen Gedanken und Gesinnungen
als Kinder unserer Zeit, denn es ist uns,
als schwebten sie, obwohl noch unaus-
gesprochen, in der Luft.

Man könnte die Menschen, die man
in so mannigfache Kategorien theilt, auch
kurz in zwei große Classen von religiösen
und unreligiösen Naturen trennen; es
braucht hier wohl nicht erwähnt zu
werden, dass dies einzig in Bezug auf
ihre seelische Beschaffenheit gilt. Ja, wir
entnehmen wohl am besten aus den
frommen Legendenbüchern selbst, wie
häufig heilige Mönche an ihren Kloster-
brüdern erfahren mussten, dass keine
äußeren Gemeinden die innerlich ver-
schiedenen Menschen auf Erden trennen
oder vereinen. Einander unverständlich
wie am Thurme Babel weben sie da oft
ineinander, und was waren Inquisition und
Religionskriege, was sind zuletzt alle
Intoleranzen anders, als heillose Miss-
verständnisse von Schrift und Wort.

Auch sehen wir so große Heilige, wie
Franz von Assisi, dem Schauplatz der
Controversen ferne bleibend, viel mehr
um die erweiterte und verklärende Deutung
des Dogmas, als um seinen Wortlaut
bemüht. — Denn die Religiosität ist ein
sechster Sinn, ein bewusstes oder unbe-
wusstes inneres Schauen, und sie hat mit
dem Dogma eine sehr bedingte und
leider immer noch so häufig verkannte
Beziehung.

Wie wenig eben jenem Dogma mit
der Vernunft beizukommen ist, sein

innerstes Wesen und seine geheimnis-
volle Symbolik hat Tertullian voll Weis-
heit und mit unbeschreiblicher Tiefe aus-
gedrückt und erfasst: »Verum est, quia
ineptum est« (Vom Wesen der Incar-
nation).

Deshalb ist nichts so unbefriedigend,
als jene schnell bereiten Ausflüge ins
Reich des Geheimnisvollen und Unsicht-
baren, jene oberflächlichen Streifzüge der
Vernunft in ein Gebiet, das die Sinne
übersteigt, und wo nur jenes hellsehende
Auge des großen Heiligen oder des großen
Denkers die Nacht oft blitzartig durch-
dringt, die uns umfließt. An jene Ähn-
lichkeit zwischen den beiden Extremen:
der weitabgewandten Contemplation des
Heiligen und dem weltentrückten Schauen
des Genius wurden wir schon öfter ge-
mahnt.

Wie weit der Körper des Menschen
beseelt, wie weit seine Seele körperlich
ist, darüber streiten die Edlen nicht;
wissen oder ahnen sie doch, welche Wahr-
heit sie durch ihr eigenes Dasein veran-
schaulichen; dass der Mensch als Ganzes
jene Würde hat, die ihn in seiner Klein-
heit und Verletzlichkeit, ja sogar in seiner
Vergänglichkeit verehrungswürdig erschei-
nen lassen, denn es gibt Menschen, die
wir, köstlichen, seltenen Dingen gleich,
vor der Zerstörung bewahren möchten;
so vollkommen erscheinen sie uns, dass
wir zagen, so kostbare Bestandtheile
fänden sich nicht wieder zusammen, und
ein solcher Mensch gelänge der Natur
nicht wieder! — Dann suchen wir Zuflucht
in einem Gedanken, den solche Exemplare
fördern: eine eigene Vorsehung walte über
Solche, welche die Bestimmung ihres
Geschlechtes so deutlich darlegen, indem
sie dieselbe erfüllen: »Der Mensch ist
keine Dualität, sondern ein Organismus,
der seine Apotheose, nicht seine Trennung
als Endziel hat.«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 1, S. 13, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-01_n0013.html)