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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 1, S. 12

Text

KASSNER: ZUM TODE OSKAR WILDES.

sammenhange des Lebens dieses großen
Kunst-Asketen, dieses schweren, über-
ehrlichen, mühsamen Mannes, der sich
immer im Wege stand und wund ward
an den Paradoxen seines und aller Leben,
der wird in ihr ein entscheidendes Selbst-
bekenntnis finden. Flaubert hätte ebenso
sagen können, ich lache, wenn ich Toilette
mache, mich in meinem Zimmer umsehe,
mit jemandem spreche, mein Leben an-
sehe, ich lache immer, vielleicht auch,
wenn ich schlafe, ich lache nur nicht,
wenn ich meinen Illusionen nachschaffend
folge. Diese Stelle erklärt aber auch para-
dox genug Flauberts leidenschaftliche Liebe
aller fernen Formen, der Formen, die nur
noch mehr als Stimmung leben konnten, und
der Schöpfer der Salammbô begründet gleich-
sam Oskar Wilde, der im Costüm eines
Adeligen aus der Zeit der Königin Anna auf
dem Pall Mall spazieren gieng. Für Flaubert
war das Schaffen und Leben in einem
schmerzhaften Widerspruch, die Welt-
anschauung dieses in allen Tiefen ver-
schämten Mannes war seine Ästhetik.
Oskar Wilde war Ästhetiker, und seine
Ästhetik war seine Paradoxie. Oskar Wilde
liebte nicht die Form um der Form willen,
wie die Phrase geht, er liebte sie auch
nicht um ihres Geistes willen, seinen Geist
liebte er in ihnen, und bis die Formen zu
ihm kamen, waren sie schon nicht mehr
Formen, sondern nur noch mehr Geist
und Musik, sein Geist, wie einem anderen
eine Thorheit und eine Sünde auf dem
langen Wege zu ihm ein Wissen und
eine Tugend mehr geworden ist. Die
Distanz macht alles zur Musik. Und das
nun ist die nothwendige und darum natür-
liche Paradoxie in Oskar Wilde — mir
ist er immer nur ein musikalisches Pro-
blem, ein Problem für viele — dass
seine Liebe seine Ästhetik und sein Wissen
seine Musik war. Wenn er als Schaffender
und Erkennender nur eine Möglichkeit
war, als Ästhetiker war er vollkommen, eine
That, um in der Paradoxie zu bleiben.
Man vergesse auch nicht, dass er Eng-
länder war und in London ist der Ästhe-
tiker ebenso natürlich, wie er in Paris über-
flüssig, in Berlin komisch und in Wien
unglücklich ist. Doch das ist ein weites
Gebiet.

Zum Schlusse gebe ich als Docu-
ment zu dem Gesagten die Übersetzung
zweier Gedichte in Prosa, das eine
heißt »Der Schüler«, das andere »Der
Meister
«.

DER SCHÜLER.

Als Narcissus gestorben war, verwandelte
sich die Quelle seines Vergnügens aus einem
Becher süßen Wassers in einen Becher bitterer
Thränen, und die Oreaden kamen weinend
durch den Wald, um der Quelle ihre Lieder
zu singen und ihr Trost zu bringen.

Und als sie sahen, dass die Quelle aus
einem Becher süßen Wassers in einen Becher
bitterer Thränen sich verwandelt hatte, lösten
sie die grünen Flechten ihrer Haare und weinten
und sagten: »Wir wundern uns nicht, dass du
also beweinest den Tod des Geliebten, denn
er war schön.«

»War Narcissus schön?« fragte die Quelle.

»Wer sollte es besser wissen, als du?«
antworteten die Oreaden. »Niemals sah er sich
nach uns um, aber dich hatte er gesucht, und
an deinem Ufer lag er hingestreckt, in dich
ließ er seine Blicke sinken, und im Spiegel
deines Wassers sah er seine eigene Schönheit.«

Und die Quelle antwortete: »Aber ich
liebte Narcissus, weil, wenn er an meinen
Ufern hingestreckt dalag und seine Blicke in
mich sinken ließ, im Spiegel seiner Augen ich
immer nur meine eigene Schönheit wiedersah.«

DER MEISTER.

Als aber die Finsternis über die Erde ge-
kommen war, da stieg Josef von Arimathäa
mit brennender Kiefernfackel vom Hügel ins
Thal, denn er hatte in seinem Hause zu thun.

Da traf er auf einen Jüngling, der nackt
auf den Steinen des Thales der Verzweiflung
kniete und weinte. Sein Haar war von der
Farbe des Honigs und sein Leib wie eine
weiße Blume, aber mit Dornen hatte er ihn
zerfleischt, und Asche trug er auf dem Haupte
wie eine Krone.

Und jener, der viele Güter besaß, sagte zu
dem Jüngling, der nackt war und weinte: »Ich
wundere mich nicht, dass dein Schmerz so
groß ist, denn wahrlich: Er war kein Ge-
rechter!«

Der Jüngling antwortete: »Nicht ihn.
sondern mich beweine ich. Auch ich hatte
Wasser in Wein verwandelt, auch ich habe
die Aussätzigen geheilt und den Blinden das
Gesicht gegeben. Auch ich bin über die Wasser
geschritten und habe die Teufel ausgetrieben
Denen, die bei den Gräbern wohnen. Auch ich
habe die Hungrigen gespeist in der Wüste, dort,
wo es keine Nahrung gab, und habe die Todten
wiedererweckt aus ihren engen Gräbern, und
vor einer großen Volksmenge wurde auf meine
Worte ein dürrer Feigenbaum grün. Alles, was
dieser Mensch gethan hat, das that auch
ich. Und trotz alledem haben sie mich
nicht gekreuzigt.«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 1, S. 12, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-01_n0012.html)