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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 1, S. 11

Text

KASSNER: ZUM TODE OSKAR WILDES.

Paradoxen. Ja, wie dem auch immer sei,
das Paradoxe ist unvernünftig, absolut
unmoralisch und immer nur ein Product
der Einbildungskraft. Es gibt Menschen,
deren Einbildungskraft schafft, und andere,
die ihre Einbildungskraft leben. Die Ersten
schaffen das Werk, die Zweiten schaffen
das Paradoxe. Jedes Werk ist ein über-
wundenes Paradox und jedes Paradox eine
ungeborene That. Aus diesem Verhältnis
des Menschen zu seinem Werke und
umgekehrt, aus dem Verhältnisse der
Gründe eines Menschen zu seinem Aus-
drucke ergeben sich nun vier Arten von
Paradoxien, die in einem inneren Ver-
hältnis zu einander stehen und eine eigen-
thümliche seelische Entwicklung darstellen.
Ein Mensch ist paradox, weil er nicht
handeln kann. Das ist der erste Fall, der
Fall Hamlets. Eine noch einfache, rohe
Form der Paradoxie, absichtlich und greif-
bar wie die Maske des Dänenprinzen, die
dieser fallen lässt, wenn er den Degen
zieht oder vor die Mutter hinkniet.

Feiner ist die Paradoxie jener Menschen,
denen das Leben etwas Fremdes, Fremd-
gewordenes, etwas, von dem sie sich
befreit haben — wie der Künstler von
seinem Werke — ist, wenn sie es im Spiegel
ihrer Einbildungskraft sehen, und diese
Menschen haben recht, wenn sie sagen,
ihr äußeres Leben, alles, was an ihnen
handgreiflich und für andere da ist, sei
nur Lüge, Verstellung und Gewissen-
losigkeit, denn das Paradoxe ist die Lüge
Eines, der die Wahrheit für sich behält
und die Gewissenlosigkeit Eines, dessen
Gewissen so weit wie seine Einbildungs-
kraft ist; die Paradoxie ist das Bild der
Lüge, wie die Wahrheit das Bild der
Wirklichkeit ist, sie ist die bewusste
Lüge, die freie Lüge, die Lüge als
Kunst. Wer mir dagegen einwendet,
dieser Mensch sei ein Opfer der Illusion,
dem antworte ich, dass es viele Menschen
gibt, die einfach außer sich sind, wenn
sie nicht in der Illusion leben, und was
der Moralist, der Thaten fordert, Illusion
nennt, ist dem — wie sage ich doch
gleich — ist dem musikalischen Menschen
also, der die Möglichkeiten sieht und liebt,
die Einbildungskraft. Die dritte Art von
Paradoxie ist die Paradoxie des philoso-
phischen Geistes. Diesem ist alles Be-

stimmte paradox, weil er es geistig wie
im Spiegel zahlloser entgegengesetzter
Möglichkeiten reflectiert, und sein Geist
ist der Ort, wo alles, was in der Wirk-
lichkeit, das heißt in der Bestimmung
besteht, seinen Gegensatz findet. In der
Kunst, sagt Oskar Wilde — ich citiere
aus dem Gedächtnisse — gibt es nichts
Wahres, von dem sich nicht auch das
Gegentheil behaupten ließe. Kehren wir
nun diesen Fall um, so haben wir — als
vierte Art der Paradoxie — den Menschen,
der sein eigenes Leben als seine Schöpfung
betrachtet, nur weil er es immer spiegelt.
Das ist der Fall Oskar Wildes. Sein Ideal
war die Selbstcultur, ein Sich-selbst-erleben,
seine Liebe, die Liebe des Narcissus, die
überall nur Spiel findet, sein Rausch ge-
hört den Träumen und ist darum un-
fruchtbar. Society often forgives the cri-
minal, it never forgives the dreamer. The
beautiful sterile emotions, that art excites
in us, are hateful in itseyes.

Oskar Wildes Meister ist zunächst der
junge Keats, und wie mit diesem die
Reihe englischer Maler und Dichter, die
man ungenau die Prä-Raffaeliten nennt,
beginnt, so schließt sie mit jenem. Und
wenn Keats in einem Briefe gesteht, es
sei das Wesen des Dichters, nie er selbst
zu sein, kein Selbst zu haben, so sagt
Wilde, es sei das Wesen seines Menschen,
paradox zu sein. In Oskar Wilde ist die
Ästhetik Keats Cultur geworden. Was
Keats den englischen Dichtern war, eine
Geburt, ein Adel, bedeutete Flaubert den
französischen. Stéphane Mallarmé und
Jules Laforgue stellen vielleicht am besten
die Cultur des Flaubert’schen Ideals dar.
Aber auch zwischen Flaubert und Wilde
besteht eine eigentümliche Analogie. In
Flauberts Briefen finde ich eine Stelle,
die mir sehr bezeichnend erscheint für
Flaubert, das Paradoxe und Oskar Wilde.
Ich lese: »Ce qui m’empêche de me prendre
au sérieux, quoique j’aie l’esprit assez
grave, c’est que je me trouve très ridi-
cules non pas de se ridicule relatif, qui est
le comic théâtral, mais de ce ridicule intren-
sèque à la vie humaine elle-même et qui
ressort de l’adion la plus simple ou du geste
le plus ordinaire. Jamais par exemple je ne
me fais la barbe sans rire, tant ça me paraît
bête.« Wer diese Stelle begreift im Zu-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 1, S. 11, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-01_n0011.html)