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Geistes, und wahrlich, die wüthenden
Feuerstiere und Ringeldrachen oder die
verderblichen Sirenenlieder fehlen auch in
dieser Welt nicht, in der Lynkeus der
Jüngere unbewegten Auges am Steuer
sitzt. Ich habe nie ein Buch gelesen, wie
dieses. Ist’s denn ein Buch? Nein, es
sind Bilder und Visionen von schauer-
licher und süßester Klarheit. Bilder? Nein,
es sind Wirklichkeiten, die mit der Plastik
des Traumes vor uns schweben. Wirk-
lichkeiten? Nicht doch! Es sind Träume,
die wie das Gespenst der Wirklichkeit
vor dem Blicke stehen. Zwischen Dichtung
und Wirklichkeit und Traum ist ein un-
entdecktes Reich. Von da heraus quillt’s
hier wie Geistesnebel und gestaltet sich
zu Sinn und Bild. Die »Phantasien eines
Realisten« sind aus dem Stoffe, aus
welchem Dr. Fausts Zaubergestalten ge-
formt sind, die er dem erschreckten Hof
vorgeführt; sie sind aus dem feinen Nebel,
der plastischer scheint, als das Leben, und
wieder in leeres Nichts zerrinnt, wenn der
Zauberer winkt. Wie die Zuschauer von
Fausts Beschwörungen, fühlen daher die
Leser dieses Buches etwas wie magische
Witterung bei den wechselnden Schau-
spielen und Bildern, die in langer Kette
vorüberziehen: Gesichte, die noch kein
Muth groß genug war, zu sagen; Träume,
die nicht wieder schlafen giengen; Ge-
schichte, die sich gleichsam verspätet hat.
Ganz nüchtern besehen, ist das merk-
würdige Buch, das seinen Autor verbirgt,
eine Sammlung von fast hundert meist
kurzen Geschichten, die sich wie Essenzen
von Dramen und Lustspielen lesen. Eine
mehr als Shakespeare’sche Verwegenheit
hat diese Phantasien erfunden, die meist
klar wie der Tag beginnen, um oft wie
ein böser Traum blitzartig zu Ende zu
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kommen. Ein Gil Blas der Seelen deckt
hier die Dächer der Stadt ab, um Scenen
zu gewahren, durch die man in die
unterste Tiefe der menschlichen Natur zu
blicken scheint. Zu dem dunklen, ge-
fährlichen Reich der Seele, aus dem unser
Schicksal, wie aus der Wetterwolke der
Blitz, geboren wird, sind hier geheime,
nie geträumte Zugänge aufgethan. Für
den Todhass der Geschlechter, der in der
Liebe lodert, werden uns hier Augen ein-
gesetzt, schreckliche, kalte Lynkeus-Augen.
Und mit dem tiefen, dritten Auge lernen
wir in die Vergangenheit blicken, in der
die Weisen aller Zeiten wandeln, nicht
als kalte Statuen, sondern mit unerhörter
Wärme des Lebens, um gleichsam noch
etwas Tiefes und Gutes, was sie in
ihrem Dasein vergaßen, zu thun oder
zu sagen, zu thun oder mitzutheilen.
Ein Reich »jenseits von Gut und Böse«,
ein anderer Himmelsstrich der Seele kündigt
sich hier in seinen ersten seltsamen Wind-
stößen an, und es weht mit Thauluft
herüber, wie von offenen Meeren, von
neuen Gestaden, wo es keine Sünde mehr
gibt, weil es keine Richter und keine
Henker gibt, wo die Unschuld der Natur
und alles Geschehens wieder hergestellt ist.
Die »Phantasien eines Realisten« literar-
historisch einzuschachteln, fühle ich keine
Noth. Turgenjews »Gedichte in Prosa«
und die Divane persischer Mystiker würden
etwa zwei Dinge sein, von denen ein
leises Echo herüberzukommen scheint.
Der Geist des Ostens hat sicher ein wenig
Antheil an Lynkeus; aber Lynkeus ist
ein Grieche, der nur als tapferer Argo-
naute dahin kam, wo uralter Weisheits-
Schatz, von Drachen behütet, schlummert.
Es ist der Griechengeist, der uns in diesem
Buche umwirft, wie einen Stier.
DR. MICHAEL HABERLANDT.
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