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abgebrauchtes Milieu, das sich bis zu
den »Soldaten« und dann noch weit
über die »Minna« hinaus zurück-
verfolgen ließe, wird in geschicktester
Modernisierung und mit einem handfesten
Instinct für scenisch-decorative Werte der
theatralischen Nothdurft des Publicums
insoweit dienstbar gemacht, als es die
dichterische Vergangenheit des Autors
und sein literarischer Geschmack ohne
vernichtende Einbuße just eben noch
zulassen mögen. Diesem schneidig con-
struierten Milieu werden, wie das die
Wasserfarben-Maler thun, kleine lyrisch-
sentimentale, aber nicht minder grelle
Lichter aufgesetzt; perspectivische Ver-
tiefungen, Verkürzungen, Vergrößerungen,
die das Auge in bedenkliche Gründe ver-
locken und die Oberflächenwirkung trüben
könnten, werden behutsam ausgewischt;
aus der willkommenen Enge der Standes-
gefühlchen, die auf der Bühne mit dem
Säbel scharren und eine bequeme »drama-
tische Nothwendigkeit« posieren, huscht
überdies wie von ungefähr ein unsäglich
verfeinerter, gleichsam abstracter und
imaginärer deus ex machina hervor, der
dem »Helden« das Haupt abschlägt —
car tel est son plaisir — und dem Spiel ein
Ende macht, uns aber um das Gefühl betrügt,
dass er unrettbar verloren gewesen.
Hat ihn die »Standesmoral« in den
Tod getrieben? Nein. Denn eine Standes-
moral, wie sie hier construiert und
an einem besonderen Fall findig ent-
wickelt wird, existiert nicht. Existiert sie
aber wirklich irgendwo im Reiche, am
Rhein oder an der Havel, in Schnarrwitz
oder Gackelheim, dann ist sie an sich für
die Bühne verloren, da wir uns im Zu-
schauerfauteuil durchaus nicht die Mühe
zu nehmen brauchen, an Specialitäten zu
glauben, denen die Gewalt des allgemeinen
Falles oder die Zwingkraft des Dichters
fehlt, Geschehenes oder Erlogenes in
kunstgemäße Wahrheit zu wandeln. Es
lässt sich dies bei Aristoteles nachlesen
— und über dieses Ewige, Eherne kann
kein Dramatiker hinwegspringen, ist kein
Dramatiker hinweggesprungen!
Hat den »Helden« also nur eine sub-
jectiv eingebildete Standesmoral, wie
sie manchmal in unreifen Köpfen einer
Gilde spukt, in den Tod getrieben? Hat er
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— er allein — die vernichtende Wirkung
dieses eingebildeten Gespenstes gefürchtet?
Möglich. Das wäre eine Tragödie der Miss-
verständnisse, die sich rechtfertigen ließe,
denn er hätte dann an sich selbst zugrunde
gehen müssen. Aber die Gespensterfurcht
ist hier nicht bloße Einbildung. Denn die An-
deren, die um den Helden herum sind, ihn
attaquieren und sein Schicksal ausmachen,
glauben gleichfalls daran, müssen
daran glauben, weil — ihr Autor und
Nährvater diesen Glauben braucht. Und
keinem von ihnen fällt es ein, dem
Gepeinigten einen rettenden Finger
zu zeigen, den Gepeinigten auf das
Naheliegendste aufmerksam zu machen,
weil — der Autor das Weitestliegende
braucht und nach einem vorzeitig rettenden
Finger kein Verlangen trägt. Und dabei
verschweigt der Autor nicht einmal —
was doch ein Schachzug gewesen wäre
— dass der Gepeinigte Kameraden hat,
die ihm von Herzen gut und gewogen
sind! Man denkt sich: warum geht der
ehrliche, aufrichtige, wahrheitsliebende
Kerl, statt sich da vier Acte lang foltern
und ein geliebtes Mädel verunreinigen zu
lassen, nicht spornstreichs zu seinem Oberst,
öffnet dem strengen Mann die Ohren,
deckt den Schurkenstreich der Intriguanten
auf, fordert das missverständlicher-
weise gegebene Ehrenwort, das ihm kein
Ehrenmann verweigern kann, coram amicis
ac duce zurück und rückt sich selbst mit
Recht in das bengalische Licht der Un-
schuld? Warum nicht? Ist er so dumm?
(dumme Kerle sind nie tragisch). Oder
hält er uns für so dumm, dass wir seine
Dummheit nicht merken werden? Wenn
er nun unserem Mitleid als unrettbar ver-
loren aufoctroyiert wird — worin besteht
diese »Unrettbarkeit«? Sie besteht über-
haupt nicht. Und damit ist den tragischen
Fügungen, die nur mehr den Winken
einer zurechtgelegten Willkür folgen, jene
Unerbittlichkeit entzogen, ohne die
eine innerlich dramatische (»befreiende«)
Spannung nicht eintreten kann. Es ist
charakteristisch für das gesammte zeit-
genössische Schaffen, dass da wieder
einmal ein Dichter (leider kein naiver) der
modernen Meinung gewesen, man könne
die autoris voluntas ohneweiters als suprema
lex stabilieren.
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