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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 2, S. 25

Text

MEMLING.
Von OSKAR LEVERTIN.

Wenn man ein paar Tage in Brügge
umhergewandert ist, in Beichte und Zwie-
sprache mit sich selbst, dann kommt die
Stille, die der Novize erfährt, wenn seine
Probezeit beendet ist, eine Reconvalescenz
matter Wehmuth und süßen Wohl-
behagens. Der Sonnenschein der stillen
Stadt fließt von Ruhe über, und ihr Schatten
von Kühle. Der Glockenklang hat den
liebkosenden Frieden eines Wiegenliedes.
Duft von weißen Hyacinthen strömt aufs
Fensterbrett hinein, wo Thomas a Kempis
aufgeschlagen liegt. Da ist man in der
rechten Stimmung, um das kennen zu
lernen, was Brügge Erlesenstes hat: Mem-
lings Heilige, Engel und Madonnen, die
hier ihr ewiges Sonntagsfest verleben.

Brügge ist Memlings Stadt, und doch
würde man sich eine zu einseitige Vor-
stellung des Meisters machen — und Mem-
ling ist wohl einer der herrlichsten Künstler,
die in Bild und Farbe geträumt haben — wenn
man sein Werk nur dort studieren wollte.
Es gibt anderswo Arbeiten seiner Hand,
die außer der erlesenen Grazie und Har-
monie, die diesen den Stempel aufdrücken,
noch eine reichere und stärkere Energie
besitzen. Nach Schilderungen und Ab-
bildungen zu urtheilen, gilt dies vor allem
von dem großen Altarbild in Danzig: »Das
jüngste Gericht«. Dessen rechter Flügel
besonders muss zu den sublimen Dingen
der Kunst gehören. Er stellt die Seligen
vor Von einer Flur, deren
Frühlingsblumen des Lebens Strom be-
thaut und unter deren Grashalmen Edel-
steine von den Grundmauern des ewigen
Jerusalems wie Perlenstaub funkeln, kom-
men die Auserwählten. Noch liegt auf
ihren Zügen trotz der Erlösung ein Schatten
der Angst vor dem Gericht. Ihre Blicke
sind scheu vor all dem Licht, das wartet,
und in bebender, demüthiger Nacktheit
steigen sie die Treppe zu der Kathedralen-
pforte des himmlischen Paradieses empor.
Petrus stützt ihr Wanken, und fünf Engel

im bischöflichen Ornat hüllen sie in geist-
liche Gewänder. Aber auf den Loggien
über den offenen Thürflügeln und heiligen-
geschmückten Giebelfeldern des Kathe-
dralenthores stehen Scharen lichter Engel
und heißen die Seligen willkommen. Sie
singen und spielen des Lustgartens sternen-
klaren Morgengesang, und ihre Flügel und
Locken schimmern der Flamme der Flam-
men entgegen, der Morgenröthe des Para-
dieses.

Es ist in diesem Bilde ein ewiger
Hauch, eine großartige Mischung von
Scholastik und Religiosität, wenn man
auch die Originalität der Composition nicht
zu hoch anschlagen darf, wie aus einem
Vergleich mit dem muthmaßlichen Vor-
bilde: »Das jüngste Gericht« von Stephan
Lochner im Dome zu Köln, hervorgeht.

Nicht weniger stattlich ist das kürzlich
abgebildete Tryptichon von Christus und
seinen Engeln, das durch Jahrhunderte ver-
gessen in dem Orgelchor einer spanischen
Klosterkirche gelebt hatte, und verschie-
dene andere Werke des Künstlers, die
ringsum in den Gallerien — Berlin, Paris,
London — durch ihre lichte, schmelzende
Harmonie fesseln.

Und doch, trotz alledem, ist Brügge
Memlings Stadt. Die alte Legende erzählt,
dass der Maler nach der Schlacht bei
Nancy in die Stadt gekommen war, schwer
verwundet, verarmt, besudelt von der Noth
und den Ausschweifungen des Marodeur-
lebens. Da hatten ihm die guten Schwestern
im Johannesspitale zu Brügge Obdach
und Pflege gewährt, und zum Danke für
seine körperliche und geistige Genesung
hatte er die Kirche mit seinen Kunst-
werken geschmückt. Die Archive haben
diese Legende umgestoßen, die übrigens
von keinerlei Spur von Leidenschaftlichkeit
oder heißer Reue und Zerknirschung in
seinen Bildern mit ihrer klaren, ungetrübten
Schönheits-Feierstimmung gestützt wurde.
Die alten Papiere zeigen ihn im Gegen-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 2, S. 25, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-02_n0025.html)