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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 2, S. 26

Text

LEVERTIN: MEMLING.

theil als wohlbestallten Bürger in Brügge,
berühmt nicht nur als einer der vortreff-
lichsten Maler Flanderns, sondern der
ganzen Christenheit. Aber wie dem auch
sein mag, ist doch auf jeden Fall das
Johannesspital noch heute Memlings eigent-
liches Heim, der Ort, wo man den reich-
sten Stimmungseindruck seiner Kunst hat.

Das Hospital ist bemerkenswert alter-
thümlich, es liegt im ältesten Straßenwinkel
Brügges. Um zu dem kleinen Museum zu
kommen, geht man durch den Garten des
Spitals, einen echten, mittelalterlichen Öl-
garten, der in dem unbeweglichen Sonnen-
licht blüht. Schwarzgekleidet, mit weißen
Hauben, gehen die Schwestern über den
Kies, sowohl die bleichen Nachtwandle-
rinnen der Träume mit den schwebenden
Bewegungen und den so fernen Augen,
wie die Resignierten und Frohgemuthen,
flamländisch Vollen und Lachlustigen. Auf
den Blumenrondellen erhebt die Sonnen-
blume ihre Pracht zu der Flamme, die
verbrennt, die Passionsrosen verbluten in
greller Opferfarbe, und die Kresse rändert
das Ganze mit bleichgelben und hochrothen
Kelchen, gleich und ungleich wie Men-
schenschicksale, alle mit ihrer Bitter-
nis

In dem kleinen Memling-Museum an
diesem gothischen Garten finden sich nicht
weniger als sechs Werke von des Meisters
Hand, und unter ihnen in erster Linie der
kostbare Schatz der flamländischen Kunst,
der der heiligen Ursula geweihte Reliquien-
schrein. Er hat die Form einer Kirche,
auf deren Wänden der Meister die Ge-
schichte von Ursula und den elftausend
Jungfrauen erzählt hat, eine der güldenen
Legenden von Prinzessinnen, die schon
von Geburt an zum Martyrium der
Himmelsbräute geweiht sind. Sie ist die
Tochter eines christlichen Königs in Groß-
britannien und schon als Kind von der
Offenbarung erfüllt. Als sie zur Jungfrau er-
blüht war, wird ihr Reiz und ihre Hand von
einem heidnischen Prinzen in Amerika
erstrebt, aber eher dass sie einer Liebe
Gehör schenkte, die Reinheit und Glauben
zu beflecken droht, flieht sie mit ihren
Jungfrauen, von himmlischen Visionen
geleitet. Über Köln und Basel gelangt sie
in die Stadt Petri und mit ihrer Begeiste-
rung reißt sie selbst Cyriacus, den alten

Kirchenvater, so mit, dass er beschließt,
mit ihr auszuziehen und die gute Saat
auszustreuen. Aber sie kommen nicht
weiter, als bis nach Köln, wo die Hunnen
sowohl den Papst, als Ursula und ihre
Zofen zum Opfertode führen. Diese
Legende hat Memling — wahrscheinlich
nach Eindrücken alter Malereien in Kölns
Ursulakirche — in Farben erzählt, strah-
lend wie die Unschuld der Heiligensagen,
mit der Sorgfalt eines mittelalterlichen
Farbenauftragers in der miniaturreinen
Ausführung, die etwas von der Zierlichkeit
der Emailkunst und der klaren Leichtigkeit
der Glasmalerei hat, und doch mit dem
Hauche und der Bewegung der neuen Zeit
in der lebensvollen Gruppierung. Auf
dem Kapellendach des Reliquienschreines
spielen Memlings Engel ihre himmlische
Musik um die Krönung der Mutter Gottes.
Das Ganze ist eine Sonntagswelt für sich,
eine Welt der Heiligkeit, Eleganz und
Schwärmerei. Außer dem Ursula-Schrein
finden sich hier andere, ebenso bedeutungs-
volle Kunstwerke, wie der herrliche
Johannes-Altar, Katharinas von Alexandrien
mystische Vermählung darstellend. Das
Jesuskind schiebt mit einer Geberde kind-
licher Hoheit den Ring an den Finger der
Heiligen, während Maria sachte die Blätter
im Buche des Lebens wendet. Kniende
Engel spielen stille, und Johannes der Täufer
und Johannes der Apostel stehen als
stumme, ernste Zeugen an den Säulen um
den Thronhimmel der Madonna.

Da gibt es weiter bezaubernde Dar-
stellungen der Geburt, der Anbetung der
drei Weisen, der Kreuzabnahme, ferner Por-
träts, darunter das herrliche Bild des jungen
Rathsherrn Martin von Nieuwenhove, der
mit entblößtem Haupte und gefalteten
Händen dasteht, versunken in den Ernst
seiner Morgenandacht, während die frühe
Morgenluft von Brügges Gassen durch das
geöffnete Fenster hereinspielt.

Je länger man unter diesen Werken
weilt, desto tiefer wird das Wesen von
ihrer Harmonie durchdrungen. Sie besitzen
den vollen Zusammenklang, der die Schön-
heitsvermählung des Gefühls und des Aus-
drucks ist. Es ist eine Harmonie, zu deren
Ausformung es Generationen bedarf; eine
so seltene, verletzliche Pflanze ist sie. Wie
auf einem Grenzland zwischen zwei

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 2, S. 26, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-02_n0026.html)