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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 2, S. 28

Text

SWINBURNE: DIE DICHTUNGEN DES DANTE GABRIEL ROSSETTI.

spielen sie, Harfe und Laute oder Nim-
fali, die kleine, tragbare Orgel. Musik ist
ihr Wesen, Musik der Balsam, den sie
schenken. All unsere Unruhe, all unser
Sehnen, wie sind sie nicht im Zusammen-
klang ihres Sanges gelöst!

Aber wunderbarer als die Engel ist,
wie es sich geziemt, Memlings Madonna.
Es ist immer derselbe Typus. Der Künstler
hat hier an das Wort der Bibel von
Unseres Herrn Magd gedacht, und ihre
Gesichtszüge sind beinahe bäuerisch in
der Gebundenheit des Ausdruckes, aber
eine himmlische Versunkenheit erhebt sie
über die Welt. Die heilige Jungfrau ist
es, die Memling malt, die Jungfrau, die
einen Sohn geboren. Seine Maria ist weiß,
hoch und unberührt, die Stirne bleich und
klar, der Blick unter eingesunkenen Lidern
nach innen gewendet, der Mund ge-
schlossen, blumenhaft unbewusst, in sich
selbst versenkt. Immer deutet der Meister

an, dass sie ferne und abwesend ist. Die
Engel kommen mit Gesang und die drei
Könige mit Gaben. Aber sie sieht nichts,
sie hört nichts. Sie wendet die Blätter
im Buche des Lebens, ohne sie zu lesen,
und sie zeigt das Himmelskind, ohne Freude,
seine Mutter zu sein. Wie ein Sonnen-
strahl durch eine Glasscheibe geht, so ist
Gottes Liebe durch ihr Wesen gegangen,
und nun ist ihre Sendung erfüllt, und sie
hat sich selbst zurückgenommen. Das
Wunder hat sie lebend werden lassen —
was kann sie nachher fühlen? Die Schwer-
muth, wenn das Fest der Blüte vorbei
ist, die Trauer des Dichters, wenn er sein
tiefstes Wort gesagt? Ich weiß es nicht.
Ich sehe bloß, dass sie ferne von allem
und allen ist, und die selbstberauschte
Zerstreutheit, mit der sie die Welt be-
trachtet, bezaubert meine Seele. O, Mem-
lings Madonna, schenke auch mir etwas
von deiner himmlischen Versunkenheit!

DIE DICHTUNGEN DES DANTE GABRIEL ROSSETTI.
Von ALGERNON CHARLES SWINBURNE (London).
II.

Ein Gedicht Rossettis verdient hier
— im Anschluss an das bereits Gesagte —
besonders hervorgehoben zu werden. Ich
meine die Hymne »Ave«, deren wunder-
vollste Strophen den Kummer der Gottes-
mutter nach Christi Tod schildern — ein
Thema, vom Maler wie vom Dichter
Rossetti mit gleicher Vollendung behandelt.
Man wird diesmal vielleicht sogar dem
Gemälde vor dem Gedicht den Vorzug
geben, so ergreifend in seinem Schmerz
ist das Antlitz der Maria: von Trauer
umsponnen, starr in das kleine Allerseelen-
licht blickend, das der getreueste Jünger
dem Meister gewidmet hat, während
das Zwielicht draußen trüb die Dächer
und den Hügel mit den Leidensstationen
des Herrn streift und mit blassen Schatten
das Zimmer füllt, in dem die Muttergottes
still da sitzt, für die Armen arbeitend, die
der Sohn ihr als Vermächtnis hinterließ.

Das Zarte, Traumhafte der Stimmung des
Bildes kann nicht übertroffen werden; doch
ist auch das Gedicht, das denselben dunkeln
Ton zeigt, von wundersamem Reiz

Die Ballade hohen Stils setzt von
dem Dichter die souveräne Beherrschung
der epischen, lyrischen und dramatischen
Technik zugleich voraus. Diese drei
Künste müssen zu einer durchaus neuen
lyrischen Gattung verschmolzen werden,
wohl der wuchtigsten poetischen Form.
Der Strom breiter epischer Darstellung
wird zwar beibehalten, aber in ein
schmaleres Bett gepresst und zuweilen von
dramatischen Wirbeln und Cascaden auf-
gewühlt. Der Schöpfer einer tragischen
Meisterballade musste in der Diction noch
eleganter, in dem Herausgreifen des
Markantesten aus seinem gegebenen, zu-
meist überreichen Thema noch sorgfältiger
zu Werke gehen, als dies selbst Chancer

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Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 2, S. 28, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-02_n0028.html)