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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 2, S. 29

Text

SWINBURNE: DIE DICHTUNGEN DES DANTE GABRIEL ROSSETTI.

in seiner der Erzählung des Boccaccio
nachgebildeten Romanze »Knights Tale«
gethan hat oder William Morris in dem
aus einer schon halb verwitterten Legende
geformten Meisterpoem »The Lovers of
Gudrun
«. In einer vollkommenen Ballade
darf keine Pause und kein Zuviel der
Leidenschaft stören, keine kahle, noch
weniger eine zu blühende Stelle vor-
kommen. Selbst in unserer überreichen
Balladen-Literatur gibt es kein leuchten-
deres Beispiel für die wundervollen Wir-
kungen dieser Form, wenn ein Meister
sie handhabt, als die Ballade Rossettis
»Sister Helen«. Geheimnisvolle Lichter
weben darüber. Uralte Zauberformeln
werden in diesem großgedachten Gedichte
wieder lebendig. Eine Märe aus grauer
Vorzeit besagt: durch Hexenkünste könne
ein Mensch getödtet werden, indem man
sein wächsernes Abbild vor lohendem
Feuer drei Nächte und drei Tage lang-
sam zum Schmelzen bringe. In dem näm-
lichen Augenblick, da das Wachs auf-
gelöst sei, müsse der Leib Dessen zer-
fallen, der im Wachse nachgebildet wurde.
Ein armes Mädchen — so erneuert Rossetti
die Sage — wird von ihrem Geliebten aus
höherem Stande verlassen. Da nimmt die
Betrogene, Rache sinnend, zum alten
Hexenbrauch ihre Zuflucht. Das Ende
des letzten der drei Tage steht eben
bevor; in diesem Augenblick erscheinen
der Vater und die beiden Brüder des
Verräthers bei dem Mädchen, mit empor-
gehobenen Händen für ihn Vergebung
flehend. Aber das Mädchen, selbst in
Angst ersterbend um das Schicksal des
noch immer Geliebten, das es in Händen
hält, will doch die Rache; »Seele und
Leib von uns beiden, sie mögen zugleich
den Untergang finden«: so schreckliche
Worte flammen von diesen Kindeslippen.
Diese Scene ist ein Gipfelpunkt der Kunst
aller Zeiten. Rossetti selbst hat die gleiche
Schwungkraft der Rede nur noch einmal
wieder erreicht, in der Ballade »Jenny«,
die nämliche Glut der Leidenschaft nur
noch in »Eden Bower« wiedergefunden.
Ausgezeichnet durch die Lebendigkeit der
Landschaftsschilderung erscheint die Ballade
»Stratten Walter«; »Card-Dealer«, gebürt
wegen der Größe und Wucht des Grund-
gefühls ein besonders hervorragender

Platz. Ohne das beigefügte Datum hätte
ich das kleine Cabinetstück »My Sisters
Sleep
« für eine Jugendarbeit gehalten. Es
hat das Frische, Trotzig-Unternehmende
der Erstlinge; doch diese Verbindung
zartester Grazie mit eherner Wucht be-
kundet freilich die Hand nicht eines
Tastenden, sondern des gereiften Meisters.
Von den Sonetten zu des Dichters eigenen
Gemälden und Skizzen möchte ich der
»Pandora« die Palme reichen. Die Skizze
des Malers ist ja schon an sich von fast
überirdischer Herrlichkeit. Wie schauer-
lich-schön ist diese »Pandora«, umzüngelt
von dem wilden Rauch und Dampf der
entfesselten Leidenschaften, die aus der
jäh geöffneten Büchse stürmen und sich
in blutrothem Flammentanz um das bleiche
Antlitz und die im Winde wehenden
dunklen Haare ringeln! Die wundervollen
Übersetzungen Rossettis sind bereits
hervorgehoben worden; ich möchte noch-
mals auf seine Übertragungen des Villon
und anderer französischer Poeten hin-
weisen. Die drei süßesten Lieder Villons,
des drittgrößten Lyrikers des Mittelalters
— in stummer, thatenloser Zeit die erste,
die einzige wohllautende Stimme, welche
des schwer gebeugten Volkes Schmach
und Hoffnung aussprach —, sind hier in
die englische Form gegossen, ohne dass
ein Tropfen des Nektars vergossen wurde!
Rossetti hat die alte Volksballade von
»John of Tours«, die lange von Mund zu
Mund in Bruchstücken überliefert wurde,
bis ihr Gérard de Naval festere Ge-
stalt gab, meisterhaft nachgebildet; er hat
die Franziska-Episode bei Dante umge-
schmiedet, er hat uns selbst einige Verse
der Sappho in englischer Fassung ge-
schenkt! So entzückend-lebendig nun auch
die Musik gerade dieser Nachdichtung
klingt, das reine Echo des unsagbar
herrlichen Gesanges der Sappho, mit
seinen Ruhepunkten, mit seinem plötz-
lichen Wieder-Hinaufklimmen und In-
Wohllaut-Austönen, als ob Honig vom
Himmel träufle — den völlig ungetrübten
Zauber solcher Harmonien konnte selbst
ein Meister wie Rossetti in seiner Über-
setzung nicht wiedergeben. Dieser Dichterin
hat nicht Paris, sondern Apollo selbst den
Apfel vom höchsten Zweige des Baumes
der Kunst und des Lebens gereicht; er

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 2, S. 29, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-02_n0029.html)