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ist einer anderen Hand unerreichbar
Rossettis Dichtung »Jenny«, die ich be-
reits mehrmals erwähnte, verdient einen
ganz besonderen Preis. Sie ist voll Kraft,
Lebensernst und zartester Innigkeit. Ein
Hauch des tiefsten Mitleids weht darüber;
dennoch ist sie frei von jeder nur allzu
billigen Sentimentalität. Der Mann, dessen
Gedanken hier in schimmernden Versen
zum Ausdruck gelangen, ist keineswegs
eine überragende, sondern eine Durch-
schnitts-Erscheinung. Nur hat er doch wohl
ein wärmeres Herz, schärferen Blick,
rascheren Pulsschlag, feinfühligeren Ge-
schmack, als die Menge. Und das Mädchen,
seine zufällige Gefährtin für die eine
Nacht, ist desgleichen kein geschändeter
Engel, der zu Gott weiß welcher Höhe
des Lebens bestimmt gewesen wäre, son-
dern eine arme Straßendirne, die ihrem
Erwerb nachgeht, wie eine andere auch.
Wie natürlich sind die Grübeleien des
Mannes, der, das Haupt auf den Knien
des Mädchens, nachsinnt, wie seltsam
das Schicksal spielt, das hier ein Geschöpf
durch dieselben Instincte in das tiefste
Elend zerrt, die einem anderen nur Glück
und Ehre bringen! Wie zart ist der Ein-
fall des Mannes, ihr eine Rose zwischen
die Blätter eines unkeuschen Buches zu
legen. Wie groß ist der Schluss des Ge-
dichtes: das graue Bild Londons im
Morgennebel, das Erwachen zur Tages-
arbeit, das nicht mitleidlose Lebewohl
von der Nacht mit ihren Gespinsten!
Das Gedicht ist ersten Ranges; es handelt
von alltäglichen und gleichwohl tiefen
Dingen, von Gegenwart und Zukunft, vom
Nichtigen und vom Ewigen, vom wirk-
lichen und vom geahnten Leben.
Das ganze thörichte Gerede der
Kritikaster über »classische« und »roman-
tische« Stoffe, »nahegelegene« und »ent-
ferntere« Themen, Pflicht des Dichters,
dies oder jenes Problem zu gestalten: es
dient nur dazu, das unbefangene Urtheil
zu trüben. Ein wirklicher Poet wird in
hebräischen oder griechischen, mittelalter-
lichen oder modernen Formen gleich
mächtig wirken. Der Athem des Lebens
ist in dieser Straßen-Episode Rossettis
nicht lauter vernehmbar, als etwa in seinen
heroischen Gedichten »Troy-Town« und
»Eden Bower«. Dieses Poem zumal, die
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Lilith-Sage, ist von höchst lebendiger
Schönheit. Die alte Legende von dem
ersten Weibe Adams, das Schlangen-
gestalt annahm, um so die Menschen-
mutter zu versuchen, hat in der Darstellung
Rossettis neue und sehr reizvolle Farben
bekommen Hätte ich Muße, Raum
und die nöthige Kenntnis, so würde ich
zum Schluss die nahen und entfernteren
Zusammenhänge zwischen der Art des
Malers und der des Dichters Rossetti
beleuchten. Ich würde das Gedicht »Jenny«
mit Rossettis Zeichnung, betitelt »Tound«,
ich würde den Gesang »Troy-Town«, mit
dem Gemälde »Helen«, ich würde die
sacrale und die romantische Richtung des
Poeten mit der des bildenden Künstlers
vergleichen. Wie verlockend aber auch diese
Fragen wären, wie sehr es mich vor
allem reizen würde, die Linie seiner Ent-
wicklung zu verfolgen: dies alles greift
in diesem Falle über die Grenzen der
Kritik hinaus. Ich musste und muss mich
begnügen, den Künstlerrang Rossettis fest-
zustellen und die Art seines Werkes im
Umriss zu charakterisieren.
In jeder Epoche pflegt die Frage nach
dem Wert und Unwert, der Kraft und
Schwäche, der »Größe« und »Kleinheit«
ihrer Zeit von müßigen Schwätzern aus-
führlich erörtert zu werden. Nie hat es
eine Zeit gegeben, die nicht in den Augen
ihrer Narren eine Ära des Niederganges
bedeutete. Der engen und beschränkten
Seele muss die Zeit, welche sie hervor-
gebracht, allerdings wieder nur eng und
beschränkt erscheinen; darum hat man
in jedem Jahrhundert die Klagen über
das »degenerierte Geschlecht« von neuem
vernommen. Dantes und Shakes-
peares, Miltons und Shelleys Zeit
hieß ebenso »eine Periode des literarischen
Niederganges«, wie die Victor Hugos.
Damals wie heute war angeblich nirgend-
wo eine überragende Persönlichkeit zu
erblicken, kein großes Werk ward ge-
schaffen, kein starker Schrei war zu ver-
nehmen — von Denjenigen nämlich, die
nichts fühlen, nichts sehen, hören, von
Allen, die nicht wirken können. Diese
bejammerten stets die »kleine Gegenwart«
und sehnten sich nach den »großen« ver-
gangenen Zeiten. Dem gegenüber muss
mit allem Nachdruck betont werden, dass
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