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Shakespeares Dramen, an denen des
Äschylos, die venetianischen Maler, an den
athenischen Bildern gemessen, weder Fort-
noch Rückschritt bedeuten. Die Art und
die Ausdrucksweise des Genies mag
wechseln, seine Kraft bleibt dieselbe —
und, so paradox dies klingen mag, diese
Kraft macht sich nicht erst nach dem
Tode der Persönlichkeit geltend. Es mag
manchem verwegen klingen, doch ist es
so: wer Genie besaß, hat es schon zu
seinen Lebzeiten besessen. Die Gabe hat
sich nicht erst einige Jahrhunderte, nach-
dem er bestattet war, plötzlich einge-
stellt.
Das Werk Dante Gabriel Rossettis
beispielsweise zeichnet sich, abgesehen
von all seinen specifischen Besonderheiten,
die es von allen anderen Meisterwerken
sondert, durch diejenigen Eigenthümlich-
keiten aus, die es mit den großen und
bleibenden Werken der Literatur gemein-
sam hat: durch seinen Ernst und seine
Würde, seine Einfachheit, Klarheit, Tiefe,
durch seinen Reichthum, durch die Grazie
und Kraft der Seele. Farbe und Wohl-
klang sind seinen Gedanken vermählt, und
die Gedanken Rossettis sind mit seinen
Impulsen eins. Er bildet keine Statuen
aus Schnee, da er Gold und Elfenbein
zu meißeln vermag. Die Zeit ist ihm zu
kostbar, als dass er sie mit Nichtigkeiten
vertändeln würde. Jedes Kunstwerk dieser
Hand trägt die Marke des Meisters. Ein
solches Gleichgewicht zweier großer
Gaben ist wohl bis dahin unerhört. Beide
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Schwestern dienen ihm in gleicher Weise,
ohne gegenseitigen Neid, ohne Verwirrung.
Er ist zugleich der glänzendste Maler,
der subtilste Poet. Dabei hat er nie die
Grenzen verwischt. Seine Gedichte ver-
suchen es nicht, Gemälde, seine Gemälde
keineswegs, Gedichte zu scheinen. Er be-
herrscht das Handwerk der beiden Künste
vollendet. Die Bedeutung des Malers
Rossetti mögen Andere fixieren; ich habe
über den Dichter zu urtheilen. Nun, unter
den englischen Poeten seiner Generation
vermag ihm keiner den Rang streitig zu
machen. Rossetti übertrifft alle an Leiden-
schaft, Innigkeit und Fülle der Gedanken
und Gesichte. Seine Ziele waren stets
die der großen Kunst, und er hat stets
seine Ziele erreicht. Zum Lichtbringer
und Helfer geboren, hat Dante Gabriel
Rossetti sein Amt getreu verwaltet. Er
hat Freude und frisches Leben reich um
sich gestreut. Jetzt, da uns seine noch
jugendlich-kräftige Hand diesen durch viele
Jahre gesammelten Schatz, das »Haus
des Lebens« eröffnet, diese Frucht, ge-
brochen vom obersten Zweig, »goldener
als Gold«, jetzt mögen Alle erkennen,
welche Ernte zu tragen dieses Mannes
Leben bestimmt war! Möge man erkennen,
dass zwar — um einen Satz aus einem
Sonett Rossettis anzuführen — die letzte
Geburt des Lebens Tod heißt, wenn auch
seine Erstlinge Liebe, Farben und Klänge
waren: dass aber zwei von diesen Gewalten:
Farben und Klänge, niemals dem Tode
weichen werden.
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