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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 2, S. 32

Text

DAS TAGEBUCH DER KOWALEWSKA.
Von WACLAW NATKOWSKI (Warschau).
Autorisierte Übersetzung aus dem Polnischen von Stefanija Goldenring

»Einem Adler, der in den Wolken kreist, droht
immerwährend die Gefahr des Falles; infolge der großen
Kraft der Flügel und des innerlichen Triebes ist er in
die Wolken emporgeschnellt, dort aber kann ihm der
irdische, zur Erhaltung der Kräfte nothwendige Vor-
rath ausgehen, und die Atmosphäre kann für einen
solchen Flug zu dünn werden; indessen erlauben der
Stolz oder der allzu starke Aufschwung ihm nicht, zur
Erde zurückzukehren, sei es auch nur für einen Augen-
blick, um neue Kräfte zu schöpfen.«

(»Vorposten der psychischen Evolution und der
Troglodyten.«)*

Wir möchten hier versuchen, auf Grund
der in diesem Buche gefundenen Thatsachen,
wie auch mancher anderweitig entnommenen,
eine Schilderung der allgemeinen psycholo-
gischen Genesis der Sophia Kowa-
lewska und eine Erklärung der wich-
tigsten Erscheinungen ihres Lebens
und der Lebenskatastrophe zu geben
.

Es drängt uns umsomehr, eine solche
Aufgabe zu unternehmen, als das Leben der
Kowalewska ein auffallend treues Bild ist für
jene allgemeinen Ansichten über ein nervöses
Einzelwesen, seine geistige Verwandlung
(»Transmission«), die biologische Reaction
(«Retransmission«) und über den Verfall, die
wir in unseren beiden Artikeln (»Natur und
Kraft« und »Vorposten der psychischen Evo-
lution«) ausgedrückt haben, bevor wir die
Biographie der Kowalewska kannten.

In dem Leben der Kowalewska finden wir
also gleichsam den experimentalen Beweis der
oben genannten Ideen und umgekehrt: diese
Ideen können uns dazu dienen, Licht über
viele Erscheinungen in dem Leben der Kowa-
lewska zu werfen und uns dieselben leichter
begreiflich zumachen. Sophia Kowalewska stellt
den vollkommensten Nervenmenschen-
Typus vor
, auf den wir unsere allgemeine
Charakteristik desselben bezogen: einen Typus
mit starken Lebens-Instincten und socialen
Instincten, einen biologisch-socialen Typus,
einen Typus, den man einen ausbrechenden
nennen könnte; denn er vereinigt mit Sanft-
muth und zarter Empfindsamkeit in normalem
Zustande eine große, zuweilen brutale Energie,
eine große Empörungskraft beim Ausbruch
im vorübergehenden Zustande. Dieser wird
durch das ihrem Streben gestellte Hindernis,
durch allzu scharfe Saitenspannung oder durch
ein ihr oder Anderen zugefügtes Unrecht her-
vorgerufen. Fr. Jankowska sagt von Kowa-
lewska (»Revue des Revues«), dass sie unter

der Angst litt, diejenigen, die sie liebte, unbe-
absichtigt, und sei es nur durch Schweigen, zu
kränken« und doch, wie A. Leffler sagt: »ver-
rieth sie trotz der weichen Empfindsamkeit,
die in der Tiefe ihres Wesens ruhte, von Zeit
zu Zeit in entscheidenden Augenblicken einen
eisernen Charakter und unbeugsamen Eigen-
sinn. Sie, die mit der Zärtlichkeit eines
Kätzchens sich an eine Person schmiegte, die
sie mit einem freundschaftlichen Blick für sich
einnahm, war imstande, alle Beziehungen mit
Füßen zu treten, wenn der Kampfesgeist in
ihr erwachte« u. s. w.

Zur Heranbildung eines solchen Typus
trägt außer der allgemeinen, angeborenen Ver-
anlagung der Druck irgendwelcher Fesseln
bei, am häufigsten materieller. Bei Sophia
Kowalewska waren es die Fesseln, die der
Frau auferlegt waren, ferner die der Convenienz,
die im Hause ihrer Eltern herrschte und keine
freien Kinderspiele zuließ, der Despotismus ihres
Vaters, des Generals, endlich die Gleichgiltig-
keit der Mutter (einer oberflächlichen, vergnü-
gungssüchtigen Frau) gegen die Beweise kind-
licher Zärtlichkeit; dadurch wurde das Kind,
dessen zarte Gefühle gehemmt und beleidigt
wurden, »verschlossen und unzugänglich«.

Nachdem wir den allgemeinen Charakter
des Typus, den Sophia Kowalewska darstellt,
gezeichnet haben, wollen wir jetzt die haupt-
sächlichen, auffallenden Erscheinungen ihres
Lebens erwägen, nämlich die Verwandlung
ihrer Kräfte in geistige
, besonders in
mathematische, und ferner das Resultat dieser
Transmission: die biologische Reaction
und die Lebenskatastrophe
.

Hierbei müssen wir von vornherein auf die
Gefahr der Transmission aufmerksam machen,
der solche Naturen, wie Sophia Kowalewska,
ausgesetzt sind, also trotzige, entzündbare,
aufbrausende Naturen. Wohin und gegen welches
Ziel sie ihre Kräfte auch wenden, niemals be-

* Unter diesem Titel sind die gesammelten Arbeiten von Waclaw Natkowski, Marya Komornicka i Cezary Jellenta,
erschienen. Anm. d. Übers.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 2, S. 32, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-02_n0032.html)