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treten sie den Weg wie ein ruhiges Arbeits-
thier, sondern wie ein Held, der in den blutigen
Kampf tritt, mit blitzender Begierde im Auge;
Tollkühnheit schnürt ihm die Kehle zusammen,
durch die sich die gedämpften Worte des
alten schottischen Liedes zu drängen scheinen:
»Meine Standarte muss dort oben leuchten oder
eine Leiche wird auf Bothwell-Hill ruhen «
Zur Transmission trugen bei Kowalewska
vier Factoren bei: 1. Vererbung. 2. die häus-
liche Atmosphäre, 3. die physischen Mängel,
4. die allgemeine Geistesströmung, die allge-
meine Ideenumgestaltung in der Epoche ihrer
Jugendjahre.
Jeden dieser Punkte müssen wir hier er-
wägen. Unter Kowalewkas Ahnen von Seite
der Mutter (Schubert) waren berühmte Mathe-
matiker; ihr Onkel, den sie kannte, ein all-
seitig gebildeter Mensch, war ein fanatischer
Verehrer der Mathematik und beeinflusste mit
seinem Eifer den jugendlichen Geist seiner
Nichte in dieser Richtung, machte sie mit den
ersten Grundsätzen allgemeiner mathematischer
Ideen bekannt: Quadratur des Kreises, Asymp-
toten u. s. w.), welche die Phantasie des Kindes
erregten und eine Götzenverehrung für die
Mathematik ausbildeten, als für eine höhere,
geheimnisvolle Wissenschaft, die ihm eine neue,
wunderbare, gewöhnlichen Sterblichen unzu-
gängliche Welt eröffnete (Autobiographie).
Kowalewskas Vater (General Krukowski)
hat in seiner Jugend auch Mathematik studiert
und besaß lithographierte Curse höherer Rechen-
arbeiten. Der Zufall fügte es, dass man in
Ermangelung von Tapeten das Kinderzimmer
gerade mit diesen Notizen tapezierte. Die
kleine Sophia las die lithographierten Worte
und betrachtete die geheimnisvollen Formeln;
zwar verstand sie zunächst nicht alles, aber
es blieb in ihrem Geist mechanisch haften,
und als sie späterhin als fünfzehnjähriges
Mädchen in Petersburg Unterricht in Diffe-
renzialrechnung zu nehmen begann, fanden
sich in ihrem Geiste fertige Formen vor, in
welche die Ideen mit Leichtigkeit übergiengen;
ihr berühmter Lehrer bemerkte, dass sie den
Begriff der Grenze und des Derivierens so
schnell verstand, »als wenn sie es schon vor-
her gewusst hätte«.
Wie sehr mathematische Studien den
Menschen in Anspruch nehmen, wie sehr sie
ihn dem Leben entreißen, entkörpern, durch-
geistigen, kann nur derjenige begreifen und
empfinden, der in seinen Jugendjahren sich
selber diesen Studien widmete. Wir sprechen
hier natürlich nicht von den Handwerkern der
Mathematik (seien es die besten), sondern von
ihren Dichtern, Fanatikern, Verehrern. Solch
ein Verehrer betrachtet jedes Herabtreten seiner
Geliebten von dem hohen Piedestal der Ab-
straction zur concreten Welt der Praxis, dem
Leben, als eine Entweihung des Heiligthums;
in der theoretischen Mathematik werden sogar
die mathematischen Körper, jene leeren Formen
ohne jeden concreten Wert, für ihn zu con-
cret sein; er wird darnach streben, sie gänz-
lich durch abstracte Muster zu ersetzen —
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Geometrie ersetzt er durch Algebra, Geometrie
ohne Figuren — das ist das Ideal und der
Stolz des Mathematikers! Selbst »Hirngespinste«
sind für ihn eine Welt, in der er sich ganz
frei bewegt.
Aber auch diese Abstractionen sind noch
mit irdischem Staub belastet — den drei
Dimensionen; also auch dieser Staub des
Concreten müsste abgeschüttelt werden, Muster
von n-Dimensionen müssten gebaut werden;
von der gewöhnlichen, noch zu concreten
physischen Mathematik müsste man sich zur
metaphysischen Mathematik, zur Meta-Mathe-
matik, erheben — außerhalb jeder Sinnlichkeit,
jeder Begriffsfähigkeit.
Auf diese Weise erbaut sich der Mathe-
matiker eine Welt, die mit dem Leben nichts
gemein hat, die höchste Abstraction ist und
uns einen Schimmer der Unendlichkeit zeigt;
in dieser Abstraction verliert sich dabei gänz-
lich sein menschliches Ich, welches sich den
despotischen, eisernen, unzerbrechlichen, alles
ebnenden Gesetzen dieser eigentümlichen
Welt fügen muss.
Was die physischen Mängel anlangt, so
lenken diese, wie man es durch viele Lebens-
bilder bekräftigen könnte, den Menschen sehr
oft vom Leben ab und führen ihn der Idee
zu; das geschieht umsomehr, als die objec-
tive Bedeutung dieser Mängel von Individuen
mit großem Streben und den großen Forde-
rungen, die sie an sich selber stellen, gewöhn-
lich subjectiv verstärkt werden. Von Kowa-
lewskas physischen Mängeln ist die Kurz-
sichtigkeit hervorzuheben, die den Kreis der sinn-
lichen Eindrücke enger zieht und den Menschen
dem Innenleben zuführt; ferner der Mangel
an Schönheit, der bei Sophia Kowalewska
nicht nur der oben erwähnten allgemeinen
subjectiven, sondern auch einer besonderen
objectiven Verstärkung erlag, und zwar dadurch,
dass Sophias ältere Schwester außergewöhnlich
schön war und sie durch diesen Glanz ver-
dunkelte; »da sie der Schwester in Schönheit
nicht gleichkommen konnte, bemühte sich
Sophia, sie dafür in anderer Richtung zu über-
treffen«. (Leffler).
Das genügt nicht: außer obigen, sozusagen
localen Factoren, welche Kowalewskas große
(von der Großmutter, die Zigeunerin war, ge-
erbte) Lebenskraft in den Ideenstrom drängten,
sprachen noch allgemeine Factoren mit: eine
allgemeine Umgestaltung der Ideen zwischen
den Jahren 1860 und 1870, die allgemeine
Zeitströmung, als »die Kinder die Eltern er-
zogen«, als das persönliche Glück Nebensache
— das Opfer für die Idee die einzige, eines
Menschen würdige Aufgabe war, als eine
Heirat aus Liebe als gemeine That, als
»Schande« betrachtet wurde; als die Mädchen
hingegen nur formelle Ehen eingiengen, um
sich auf diese Weise von den Eltern unab-
hängig zu machen und sich wissenschaftlichen
Studien, überhaupt der Arbeit für die Idee
widmen zu können; als der arme, hässliche
Student von der Universität neue Ideen aufs
Land brachte, mit denen er die Magnaten-
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