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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 2, S. 34

Text

NATKOWSKI: DAS TAGEBUCH DER KOWALEWSKA.

töchter hinriss, die früher Wappen stickten und
nur von Rittern und Fürsten schwärmten; jetzt
sagen sie sich von diesen Schwärmereien los,
lassen sich wissenschaftliche und philosophische
Bücher kommen, arbeiten wissenschaftlich, ver-
achten die Bälle und lehren die Bauernkinder,
vor denen sie sich früher ekelten, lesen.

In so einer Atmosphäre, unter dem Druck
solcher Factoren wuchs Sophia Kowalewska
heran; kein Wunder also, dass aus dem Kampf,
der in ihren ererbten Instincten tobte, zwischen
der »Zigeuner-Großmutter«, die zu leben ver-
langte, und dem »Astronomen-Großvater«, der
nach Wissenschaft verlangte, dieser letztere
siegreich hervorgieng. Die ganze Macht der
Lebenskraft, die der neunjährigen Sophia hieß,
ihre Liebesrivalin blutig zu beißen, wurde bei
dem reifen Mädchen gänzlich verwandelt und
in den Strom der Idee, der Wissenschaft, der
Mathematik gedrängt. Fräulein Sophia Kru-
kowska gieng gegen den Willen der Eltern
eine formelle Ehe mit dem Studenten Kowa-
lewski ein (der gänzlich von der Geologie in
Anspruch genommen war), um ungehindert
ins Ausland reisen und die Mathematikstudien
bei dem berühmten Meister Weierstrass in
Berlin fortsetzen zu können. Eine große Kraft,
die nach einer Richtung gedrängt wurde,
musste große Resultate erzeugen, und Sophia
Kowalewska konnte sich nicht über Mangel an
Erfolgen auf diesem Gebiete beklagen; als
Belohnung für ihre Entkörperung, für das
Opfer, das sie mit ihrem biologischen Leben
der wissenschaftlichen Idee gebracht, empfand
sie die höchsten geistigen Genusse des
Triumphes. Die Stätten dieses Triumphes sind
zwei Momente in ihrem Leben, der eine am
Eintritt, der zweite am Culminationspunkt
ihrer wissenschaftlichen Laufbahn; und zwar ist
es das erste Begegnen mit Weierstrass und ferner
das Erhalten des Preises der Pariser Akademie.

Wer jemals in seinem Leben, unbekannt
und nichts bedeutend, aber mit flammendem
Trotz in der Seele, einer heiß sehnenden und
strebenden Seele, einer berühmten, steifen
wissenschaftlichen Capacität des Westens
gegenüberstand, die auf ihn herabsah wie auf
einen aufdringlichen Hergelaufenen aus »Halb-
asien«, auf ein Wesen von niederer Rasse,
gleichsam mit einem Buschmannschädel, —
der begreift, welche Wonne jener Hergelaufene,
den der Wissensdurst unter die Fremden ge-
trieben hatte, empfand, als es ihm gelang, die
Mandarinensteifheit jener Capacität zu er-
schüttern, auf ihrem faden Antlitz eine ge-
wisse Verwunderung hervorzurufen, sie zu
überzeugen, dass dieser asiatische Auswanderer
doch etwas bedeute, dass er eine Macht ist in
diesem eng beschränkten Land der Wissen-
schaft. (Ohne zu erwähnen, dass dieser Herge-
laufene außerhalb dieser Grenzen, in dem
allgemein-menschlichen, in dem innerlichen
Reich der Seele Horizonte umfassen kann, die
nur die berühmtesten Mandarinen der Wissen-
schaft unbegreiflich sind.)

So eine Hergelaufene aus Halbasien war
Kowalewska, als sie zum erstenmale

Weierstrass gegenüberstand: ein winziges, un-
scheinbares, nicht hübsches, nachlässig ge-
kleidetes, ausländisches Mädchen. Um sie los
zu werden, gab ihr der deutsche Professor
einige schwere Aufgaben in der sicheren
Überzeugung, dass sie diese Last nicht einmal
berühren und sich nicht mehr zeigen werde.
Wie war er jedoch erstaunt, als Sophia Kowa-
lewska nach acht Tagen wiederkam und alle
Aufgaben gelöst hatte, und zwar, wie es sich
erwies, nach vorzüglicher Methode und mit
klaren Erläuterungen.

Während sie die Aufgaben erklärte, nahm
sie im Eifer der Arbeit den Hut ab; das kurze,
krause Haar fiel über ihre Stirn, sie war bei
seinen Lobreden erröthet und der alte Professor
fühlte sich von väterlicher Zärtlichkeit für
dieses junge, kaum entwickelte Weib erfüllt,
das solche Geistesfähigkeiten zeigte, wie er
sie nicht oft bei seinen reifen Schülern vor-
gefunden hatte. Weierstrass’ anfängliche Un-
gläubigkeit gieng in Verehrung und tiefe
Freundschaft für dieses geniale Kind über.
Wir meinen, dass dieser Augenblick des ersten
Triumphes für Sophia Kowalewska theurer war,
als der spätere, größere Pariser Triumph, da
sie von der Akademie den Preis und unend-
liche Ovationen empfieng: es war dies schon
dazumal, als das Losreißen vom Leben, die
durch Arbeit verursachte Erschöpfung und die
geistige Verklärung mit ihrer mächtigen Hast
Sophia Kowalewska stärker zu drücken begann;
als sie die Nichtigkeit der ehrgeizigen Ziele,
der Ideenbeute angesichts des Mangels an
persönlichem Glück zu empfinden begann.

Übrigens fühlte sich Sophia Kowalewska
schon früher zuweilen sehr unglücklich. Das
war der Schmerz der Transmission, die in ihrem
Organismus in heftiger, nicht ökonomischer
Weise vorgegangen war. Sie war sich dessen
genau bewusst, als sie bedauerte (in einem
Briefe an Fr. Jankowska), dass die philister-
haften, deutschen Ahnen mütterlicherseits in
ihr über die Zigeuner und Kosaken Oberhand
bekamen«; — wenn sie weiterhin von ihren
»von der Arbeit gerötheten Augen« erwähnt,
fügt sie mit Erbitterung hinzu: »Kann sich solch’
eine Person lieben lassen?«

Der durch die geistige Verklärung verur-
sachte Mangel an Liebe im Leben, an Liebe
in der realen, irdischen Bedeutung dieses
Wortes — war die Hauptursache ihrer Unzu-
friedenheit mit dem Leben, ihres Schmerzes
und zuletzt auch ihres Todes.

In der energischen Natur dieser Frau ent-
stand zwar eine thätige Auflehnung gegen die
Durchgeistigung, die biologische Reaction
(Retransmission). Sie griff zu den verschieden-
sten Sportarten, wie Schlittschuhlaufen, Reiten,
Tanzen. Diese Mittel härten zwar den Körper
ab, machen ihn gegen geistige Leiden wider-
standsfähiger; dieselben zu beseitigen oder zu
verringern, sind sie jedoch nicht imstande. Im
Gegentheil: indem sie dem Menschen manch-
mal verhelfen, eine schwere Krankheit zu über-
stehen und ihm ein längeres Leben gewähren

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 2, S. 34, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-02_n0034.html)