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vergrößern sie den Kreis der durchlebten
Leiden.
Die einzige Erlösung, das einzige Mittel,
welches das angegriffene Gleichgewicht des
geistig verklärten Organismus wiederherstellen
könnte, indem es ihm von außen neue Kräfte
zuführte, wäre die erotische Retransmission
— die Liebe; aber diese schöne, unerbittliche,
gegen die besten Menschen am grausamsten
handelnde Göttin kam nicht. »Keiner begehrte
ihrer mit dem Urtrieb des Mannes zum
Weibe« sagt Laura Marholm über Sophia
Kowalewska. Ihre beiden Biographinnen: L.
Marholm und A. Leffler, zogen die Ursache
dieser Erscheinung in Erwägung.
Laura Marholm (»Das Buch der Frauen«),
die oft feinfühlig, aber, was Liebe anbelangt,
zu anspruchsvoll, ja sogar ungestüm ist, erklärt
es in derselben Weise, in welcher arme, alte
Jungfern sich in ihrer Erfolglosigkeit zu trösten
versuchen: »mit Mangel an Routine in der
Liebe und Vermeiden aller Koketterie« —
Routine! — Aber es ist doch jedermann bekannt,
dass Routine in allen Dingen vernichtend wirkt,
wie also erst in der Liebe! »Koketterie?« —
gewiss, aber nur nicht solche, die ein jeder
gebrauchen könnte, »wenn er nur wollte«,
wenn er sich dazu erniedrigte! Nicht diejenige,
welche gemacht wird, die eine Kunst, etwas
äußerlich Aufgeklebtes ist — diese ist ekelhaft,
ist ein gewaltsamer Anschlag —, sondern die-
jenige, welche sozusagen immanent ist und
aus der geschlechtlichen Natur des betreffenden
Individuums herausfließt, wie der Duft und die
Farbe aus der Blume herausfließen. Zwar
spricht die Marholm an anderer Stelle von
Kowalewskas Geschlechtlichkeit, von dem schon
erwähnten Biss, den sie der Rivalin zugefügt
hat. Aber dieses Erwachen der Geschlecht-
lichkeit war zu zeitig, als dass sie einen
directen Ausgang finden konnte. Umso
leichter konnte sie vernichtet, oder vielmehr
— da keine Kraft vernichtet wird — in den
Ideenstrom gedrängt werden. Sophias spätere
Liebe für Dostojewski, den genialen Epileptiker,
trug einen idealen Charakter und erfuhr keine
Gegenliebe, da sie durch die Schönheit der
Schwester besiegt wurde. Die von A. Leffler
gegebene Erklärung, dass Sophia Kowalewska
»in der Liebe zu viel verlangte«, enthält
wenigstens einen Schimmer von Wahrheit:
denn wenn wir dem Grundsatz: »Audiatur et
altera pars« genügen wollen, so finden wir
bei Edmund Goncourt in seinem »Tagebuch«
eine ähnliche Erklärung dafür, weshalb unbe-
deutende Frauen häufiger geliebt werden.
Laura Marholm kritisiert A. Leffler stark und
behauptet mit einigem Recht, dass »je mehr
jemand verlange, jesto mehr empfängt er«. —
Gewiss, aber mit dem kleinen Vorbehalt: nicht
jeder! Napoleon verlangte von den Menschen
die größten Opfer, und man antwortete ihm:
»Majestät, wir sind alle bereit, für Euch zu
sterben!« Leider ist aber in der Liebe nicht
jeder ein Napoleon; am wenigsten aber der-
jenige, der seit den jüngsten Jahren die Erde
verlassen hat, um sich in die Wolkenspären
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des Ideals emporzuschwingen, der wie Eddas
mythischer Held sein Land verlassen und in
das jenseits liegende Land der Jötuner wanderte,
um dort zu versuchen, übermenschliche Thaten
auszuführen: den Ocean des Wissens aus-
zutrinken, an dem Globus des Elends und
der Gesetzwidrigkeit zu rütteln; der darnach
trachtete, den Tod selber zu besiegen, indem
er seinen Namen in das Erz hineinschnitt!
Wir wissen, dass Kowalewskas Ehe nur eine
formelle war, und obgleich sie später zur
realen wurde, so konnte doch ein Mensch,
der »nichts mehr im Leben begehrte, wenn
er nur ein Buch und ein Glas Thee hatte«,
Sophia Kowalewska nicht glücklich machen;
diese Ehe ließ sie Mutter werden, gab ihr aber
keine Liebe. Laura Marholm drückt sich hier
treffend aus: »Mutter wurde sie ja und Gattin
auch — aber Geliebte nicht«.
Nachdem sich Kowalewska von ihrem Mann
getrennt hatte (der sich in unglückliche Unter-
nehmungen eingelassen hatte und sich später
das Leben nahm) begegnete sie in Paris einem
jungen Polen. Er war ein Mathematiker, ein
Dichter, ein Phantast, ein Mensch, der mit ihr
selber Ähnlichkeit hatte: »Seine Seele und
Sophias Seele glichen zwei brennenden Kerzen,
die zu derselben Festlichkeit angesteckt waren«
(Leffler). Sie hegten für einander natürlich
sehr viel Sympathie, führten die Nächte
hindurch heiße Dispute, die den Charakter
des äußersten Idealismus und Mysticismus
trugen. Dieses Verhältnis war jedoch keine
Liebe in der gewöhnlichen, irdischen Be-
deutung dieses Wortes. Er konnte der Kowa-
lewska nicht nur das verlorene Gleichgewicht
nicht wiedergeben, sondern er trug im Gegen-
theil zur größeren geistigen Verwandlung
und Erschöpfung bei und untergrub zugleich
mit der Nachricht von dem plötzlichen Tode
ihres Mannes ihre Gesundheit.
Endlich erglänzte für Kowalewskas Hoff-
nung wahre Liebe in der realen oder vielmehr
realistischen Bedeutung dieses Wortes, eine
Liebe, die das gestörte Gleichgewicht zwischen
Geist und Körper wieder herstellte. Sie begegnete
nämlich einem Menschen, von dem sie selber
schrieb (in einem Briefe an A. Leffler), dass
er »der entsprechende Held für einen Roman
sei (natürlich in realistischer Richtung)«. Es
war dies ein russischer Bojar, ein würdiger
Nachkomme der urwüchsigen Saporoger
Kosaken, eine der Kowalewska nicht verwandte,
sondern sie ergänzende Natur. Ihr geistiges
Streben wurde nicht gesteigert, die Last, unter
der ihr Körper sich ohnehin beugte, nicht
verstärkt, sondern sie fand eine Stütze. Denn
abgesehen von dem heilbringenden, physiolo-
gischen Einflusse einer starken und gesunden
Natur, war er auch von unmittelbar psychischer
Einwirkung ausgleichender Art, und zwar
geschah dies auf dem Wege des psychischen
Austausches zweier verschiedener Naturen,
der gleichsam ein Austausch des Wärmestoffes
zweier Körper von verschiedener Temperatur
war. Dadurch entsteht ein Sinken der psychi-
schen Temperatur bei dem höheren Individuum
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