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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 2, S. 36

Text

NATKOWSKI: DAS TAGEBUCH DER KOWALEWSKA.

und ein Abnehmen des vernichtenden psychi-
schen Fiebers. Dieser Mensch brachte nämlich
in ihren schwärmerischen Idealismus Realismus
hinein, in ihren opferfreudigen Eifer— egoisti-
schen Skepticismus, in ihre nervöse Unruhe —
ein ruhiges Gleichgewicht.

Auch andere Umstände fielen ins Gewicht:
als ihr Landsmann, den sie im Mittelpunkt
der Civilisation des Westens, in Paris, traf, wo
das psychische Leben am stärksten pulsierte,
überbrachte er ihr den Windeshauch von den
heimatlichen Feldern, das Rauschen der mit
goldenen Ähren bedeckten Fluren, den Duft
der Heimatswiesen und Blumen, die Töne des
entfernten Volksliedes — er brachte ihr die
Erinnerungen aus jenen impulsiven Kinder-
jahren, in welchen ihre frischen Sinne alle
Töne, Düfte und Bilder in der Natur unmittel-
bar, lebhaft und eifrig aufnahmen und die
ganze Außenwelt verschlingen wollten; als sie
in der Fülle ihres psychischen Lebens lebte;
als sie, anstatt Differenzialgleichungen zu
lösen, ihre Rivalin leidenschaftlich biss, wie
jedes wahre Weibchen.

Er allein konnte sie herausreißen, eine
erotisch-biologische Reaction herbeiführen, das
Pendel über den todten Punkt hinausstoßen.*
Als nun S. Kowalewska eines Tages nach
Empfang eines Briefes glaubte, dass ihr Traum
in Erfüllung gehe, fiel sie halb ohnmächtig
auf das Sofa und rief: »O Gott, Gott, welches
Glück! — O, ich ertrage es nicht! Ich sterbe!
O, welches Glück!« —Diese rührenden Worte,
die an Faust erinnern, schildern die ganze
Bedeutung dieses für ihr Leben kritischen
Moments; sie schildern die Macht des Ge-
fühls, mit welchem ein gewaltsam der Natur
entrissener Mensch bemüht ist, zu ihr zurück-
zukehren. Gleichzeitig aber deuten sie auf den
ganzen Abgrund des Schmerzes hin, falls ihm
dieses nicht gelingt.

Leider war es bereits zu spät, dabei der
ungünstigste Augenblick. Kowalewska arbeitete
gerade an einer mathematischen Preisaufgabe,
um den Bordin-Preis zu erhalten; sie war also
vom Ehrgeiz gebunden. Außerdem fühlte sie
sich fürchterlich abgespannt und strengte sich
mit der fortwährenden Analyse noch mehr an:
es quälte sie beispielsweise der Gedanke, dass
»ihn die Bewunderung ihres Geistes und
Talents mehr anziehe, als die Liebe«.**
Übrigens fürchtete sie, und mit Recht, dass sie
dem beständigen Einflusse des zukünftigen
Mannes, dem beständigen Sinken des psychi-
schen Lebens erliegen würde; dass sie von
ihrem hohen Fluge nicht nur für einen Augen-
blick, um neue Kraft zu schöpfen, sondern für

immerdar heruntergezogen, dass sie zum Haus-
möbel des Ehelebens werden würde.

Alle diese Betrachtungen besiegten zu-
sammen den Aufschwung des Körpers, der von
langem Schlaf zum Leben erwacht war. »Das
Pendel« erfuhr einen starken Stoß, erzitterte,
aber es gelang ihm nicht, über den Gipfel-
punkt hinauszukommen; es kehrte schwer und
bleiern zu seinem ursprünglichen Wege zu-
rück. Die Retransmission gelingt nicht oft im
Leben. Kein Wunder: es kommt ihr nicht, wie
in den Träumen des Dichters, eine über-
menschliche Kraft — Mephisto — zu Hilfe.
Wir sagten (»Vorposten der psychischen
Evolution«), dass »die Retransmission für
mächtigere Naturen ein Sprung über einen
Abgrund sei; wer dessen Rand nicht erreicht,
der zerschellt an den in der Tiefe hängenden
Felsen«. Und geht er nicht sogleich unter,
dann verliert das Leben für ihn jeden Wert:
der spätere Tod wird nur der nominelle Aus-
druck dessen sein, was vorher schon that-
sächlich geschehen war. Das war bei Kowalewska
der Fall.

Viele Menschen, die man Maschinen oder
Holzstücken gleichstellen könnte, werden wahr-
scheinlich sagen, dass Kowalewska, die einen
so hohen wissenschaftlichen Rang einnahm,
den Preis der Akademie und Ruhm besaß,
sich nicht unglücklich fühlen durfte, dass dies
eine Schwäche war, und sie sind sogar be-
reit, daraus ein Argument gegen die Frauen-
bildung aufzustellen. Wir wollen also sehen,
wie sich starke Männer angesichts ähnlicher
Lebensschicksale verhalten.

Nietzsche berührt diese Angelegenheit in
der ihm eigenen, bildlichen, allegorischen Weise:
Der Philosoph Zarathustra sah eines Tages
zu, wie Mädchen auf der Waldesflur tanzten.
Als der Tanz zu Ende und die Mädchen fort-
gegangen waren, wurde er traurig.

Die Sonne ist lange schon hinunter, die
Wiese ist feucht, von den Wäldern her kommt
Kühle.

Der Geist des Abends kommt und fragt
Zarathustra: Was, du lebst noch? Warum?
Wofür? Wodurch? Wohin? Wo? Wie? Ist es
nicht Thorheit, noch zu leben?

Jacobsen schildert uns in dem prächtigen
Roman »Niels Lyhne« die Seele des Philo-
sophen Bigum, der sich ein mächtiges Geistes-
reich aufgebaut hat, wo er ganz allein herrschte:
»Es gibt eine Welt, wo ich herrsche, mächtig,
stolz, reich, geblendet von dem Siegesglanz,
geadelt durch den heiligen Trieb, der Prome-
theus führte, als er das Feuer aus dem Lande
der Götter trug « Und doch begriff Bigum

* Kowalewska hatte bemerkt, dass in dem Leben des Menschen sich bestimmte Grenzpunkte wie in der Mechanik
befinden. Wenn wir z. B. das Pendel so stark anstoßen, dass es über einen bestimmten Punkt hinausgeht, dann kehrt
es nicht zurück, um seine gewöhnliche Pendelbewegung auszuführen, sondern es wird einen vollständigen Kreis um den
Befestigungspunkt ziehen. Wenn der Mensch in dem kritischen Moment seines Lebens genug Kräfte besitzt, um über
diesen Punkt hinauszugehen, dann wird sein Leben eine ganz andere Richtung annehmen. Dies ist ein analogischer
Gedanke zur Frage der Retransmission. (»Vorposten der psychischen Evolution«, »Natur und Kraft.«)

** Dieses Gefühl der Kowalewska ist die Bestätigung dessen, was wir an anderer Stelle gesagt haben, dass die
durch geistige Überlegenheit errungene Liebe für Nervöse psychisch ohne Wichtigkeit ist (»Vorposten der psychischen
Evolution«) Ein Mensch, der seinen geistigen Wert kennt, braucht keinen Prüfstein dafür zu suchen, besonders nicht auf
solchem Wege, er thut dann schon besser, Preisaufgaben zu lösen. Umgekehrt: wenn er Liebe sucht, muss er eher seine
geistigen Eigenschaften verbergen, wie ein Reicher seinen Reichthum verbergen oder nach einem Lande fahren müsste,
wo Geld nicht gekannt wird. Gretchen kannte Doctor Fausts wissenschaftliche Verdienste nicht.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 2, S. 36, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-02_n0036.html)