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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 2, S. 37

Text

NATKOWSKI: DAS TAGEBUCH DER KOWALEWSKA.

jetzt, da die Liebe fehlte, dass dieses ganze
mächtige Reich, diese ganze, große Gedanken-
welt nichts ist: »es war ja alles wertlos, was
er besaß«. Vom Liebesrausch zur geliebten,
ihn aber nicht liebenden Frau hingerissen,
stößt er folgende Worte der Verzweiflung aus,
die ihrer Kraft wegen den stolzen Worten des
allmächtigen »Dämons« von Lermontoff würdig
an die Seite gestellt werden können: »Es
gibt nichts in meiner Seele, was ich nicht
ausreißen, ausrotten würde, wenn ich dadurch
deine Liebe gewinnen könnte! Nein, nein
— wenn man mir die Wahl ließe, rasend
zu werden, und wenn ich in den Visionen
dieses Wahnes dich besitzen könnte, dich
besitzen — dann würde ich antworten: »Nehmt
mein Gehirn hin, greift mit unbarmherziger
Hand in seinen bewunderungswürdigen Bau
hinein und zerstört alle zarten Fasern, mit
welchen mein Ich an den strahlenden Triumph-
wagen des menschlichen Geistes gebunden ist!«
Der Philosoph opfert hier also der Liebe das
Theuerste, was er besitzt — seine Gedanken.

Groß ist jedoch die Macht der auserwählten
Geister im Kampfe mit den Leiden, die sie
niederdrücken; dieser innerliche Kampf ist ein
besseres Zeugnis für die Größe des Menschen,
als seine großartigsten concreten Thatsachen.
Der Mensch vermag sogar im Gift ein Mittel
zum Kampf mit dem Schmerz zu finden: er
stürzt sich in den Abgrund der Arbeit, die
ihm, wie es bei Zola der Fall ist, noch für
einige Zeit erlaubt, »den nächsten Tag zu
erleben«. Von innerem Kampf heftig geplagt,
suchte auch Kowalewska Betäubung in der
Arbeit. Aber das immerwährende Zögern
zwischen der Trunkenheit der Arbeit und der
Nüchternheit des Leidens kann für längere
Zeit nur ein eiserner Organismus ertragen,
dem noch brutale Kraft übrig blieb, um die
Zähne aufeinanderzubeißen, und auch dann
nur, wenn er sich eine Grundlage schafft, auf
die er sich stützen kann. So eine Grundlage
ist die Überzeugung, dass wir nicht spurlos
gelitten haben, dass eine unmittelbare Offen-
barung des Erlittenen erfolgen werde, sei es
in der literarischen Schöpfungskraft oder in
der socialen Thätigkeit: dass wir den Schutt
unseres Gefängnisses hinterlassen, wenn wir
erliegen.

Was für eine Grundlage kann aber in
dieser Hinsicht ein Mensch — ein Mathematiker
— wie die Kowalewska, haben, dessen Arbeit
ganz unpersönlich ist, dessen Individualität,
wie wir erwähnten, unter dem eisernen Druck
unveränderlicher kalter, wie Naturgesetze un-
erbittlicher Formeln der spurlosen Vernichtung
(äußerlich spurlosen) erliegen wird, dessen
Leiden auf die Arbeit nur nachtheilig wirken

kann, als ein Factor, welcher die Nüchternheit
und die Energie des Denkens schwächt. Ein
Philosoph, der ein System baut, das in die
genauesten logischen Formen geschlossen ist,
legt sogar außer der Logik viele Empfindungen,
persönliche Erfahrungen und Enttäuschungen,
viel von seinem Ich hinein. Das geht manch-
mal so weit, dass es schwer zu bezeichnen
ist, wo das philosophische System endigt und
das poetische Werk beginnt. (Nietzsche!) Ferner
legt der Philosoph vieles aus dem Kreise
hinein, in dem er lebt: aus dem socialen
Stand seiner Epoche, zu welchem er, je nach
seiner Individualität, diesen oder jenen Stand-
punkt einnimmt. In der Arbeit des Mathe-
matikers kann sich nichts davon wieder-
spiegeln, nichts, außer der größeren oder
kleineren Macht seines Geistes. Die Arbeit des
Mathematikers gehört keiner Epoche an*,
keiner socialen Organisation, keiner Individu-
alität. Die Mathematik ist eine von diesen
Factoren unabhängige Function. Selbst jene
oben erwähnte Liebe des Forschers für die
Mathematik, selbst seine Poesie kann sich
nicht unmittelbar als solche, als »Wärme«
offenbaren; sie verwandelt sich in »Bewegung«,
in einen mechanischen Motor, der den einzigen
Apparat — den des Verstandes — bewegt.

Es ist also kein Wunder, dass Kowalewska,
diese reiche Individualität, trotz ihrer Liebe
für die Mathematik, sich in diesem Reiche zu
sehr beengt fühlte, dass sie von literarischem
Schaffen und socialer Thätigkeit schwärmte.
Diese Rettungsmittel konnte sie aber nur in
sehr kleinem Maße gebrauchen.
Was die sociale, praktische Thätigkeit
anbelangt, so muss man nicht nur über Zeit
verfügen, die nicht durch andere Dinge be-
schränkt sein darf, sondern neben der Idee
auch über einen Vorrath physischer und
geistiger Grobheit, damit man imstande ist,
verschiedene Compromisse zu schließen. Ein
absoluter Theoretiker von allzu feinem Gefühl
wird es nicht ertragen, und kann sogar ein
Opfer des innerlichen Conflictes und Abscheues
werden.

Was das literarische Schaffen anbetrifft, so
sind die mathematischen Bande allzu stark in
Kowalewskas Geist eingedrungen und lahmten
ihren Flug in dieser Richtung. Die Mathematik
absorbiert den Menschen nicht allein zuviel
in der Zeit, da man sich mit ihr beschäftigt,
wie wir es schon erwähnten, sondern sie
bildet außerdem eine bestimmte Geistes-
beschaffenheit aus, gewisse Gewohnheiten,
gewisse Gedankenprocesse, welche die litera-
rische Arbeit sehr erschweren, sowohl in
formeller (sprachlicher), wie auch in materieller
(inhaltlicher) Hinsicht.

* Damit man mich nicht missverstehe und wegen Ketzerei und Nichtanerkennung der historischen Entwicklung
der Mathematik verdächtige, beeile ich mich, zu bemerken, dass ich hier »die Epoche« der allgemeinen Geschichte und
nicht »die Epoche« der mathematischen Geschichte im Sinne habe. Das sind zwei verschiedene Dinge, die unterschieden
werden müssen. Jede Wissenschaft besitzt außer den äußerlichen allgemein-geschichtlichen Factoren ihrer Entwicklung
auch innerliche, welche in der Anhäufung von Kenntnissen bestehen, die im Laufe der Zeit sich vollzieht — und ferner
darin, dass das Gesetz B nicht entdeckt werden kann, bevor das Gesetz A nicht festgesetzt ist. Während nun bei
anderen Wissenschaften die äußerlich-geschichtlichen Einflüsse eine wichtige, zuweilen die wichtigste Rolle spielen,
sinken sie bei der Mathematik in materieller Hinsicht bis auf Null herunter und wirken nur mechanisch, indem sie das
Tempo der inneren Entwicklung beschleunigen oder zurückhalten.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 2, S. 37, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-02_n0037.html)