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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 2, S. 38

Text

NATKOWSKI: DAS TAGEBUCH DER KOWALEWSKA.

Vor allem begegnet der Mathematiker,
der an außergewöhnliche Ordnung, an eiserne
logische Folgen in der Vorstellung der Dinge
gewöhnt ist, unbesiegbaren Schwierigkeiten
der Construction, wenn er diese Methode bei
den überaus complicierten, veränderlichen,
beweglichen, unfassbaren, sich chaotisch kreu-
zenden Erscheinungen der menschlichen Welt
anwenden will. Wer wäre denn imstande, das
veränderliche Gewirr der miteinander kämpfen-
den, sich erhebenden und fallenden Tropfen
in der siedenden Geysersäule zu ordnen!

Abgesehen davon, stößt der Mathematiker
beim literarischen Schaffen auch auf materielle,
inhaltliche Schwierigkeiten. Die mathematischen
Forschungen verwischen die Empfindsamkeit
für die Außenwelt und die empirischen
Fähigkeiten, bilden dagegen deductive Fähig-
keiten aus. Der Mathematiker tritt also an
das literarische Schaffen nicht wie ein photo-
graphischer Apparat heran, entwirft die Außen-
welt nicht auf sein Geistescliché, sondern
umgekehrt: er geht vor wie ein Maler, der
nicht nach der Natur, sondern aus der Tiefe
seines Geistes heraus malt und denselben
gewissermaßen nach außen entwirft. Das allein
ist schon eine (quantitative) Beschränkung des
Schaffensmaterials (bei Kowalewska wurde
diese Beschränkung noch durch Frauenfesseln
erhöht). Aber das ist noch nicht alles; der
Mathematiker, der nicht an Beschreibungen
oder an Erzählen einzelner Thatsachen,
sondern an die äußersten Allgemeinfassungen
gewöhnt ist, kann uns nicht einmal sein eigenes
Material in ziemlich unmittelbarer Weise
übermitteln; alle Erscheinungen, alle Gedanken,
Erfahrungen und Schmerzen fließen in seiner
Seele in eine einheitliche Synthese zusammen,
in welcher, wie in dem mathematischen
Resultat, die einzelnen Bestandtheile, die ein-
zelnen Factoren und die besonderen Wege
nicht zu sehen sind. Seine Seele ist gleichsam
eine zerreibende Maschine, in der Millionen
einzelner Kerne sich in einen concentrierten
bitteren Tropfen verwandeln.*

Wir sprechen nicht mehr davon, dass
außer diesen Schwierigkeiten, denen der
Mathematiker begegnet, Kowalewska auch auf
solche stoßen musste, denen überhaupt jedes
Individuum von zarter, nervöser Beschaffenheit
begegnet, dessen weit reichender geistiger
Blick nirgends ein Ende, eine Grenze erreicht,
sondern sich in der unendlichen, geheimnis-
vollen Tiefe der Dinge verliert und sich mit
dem Begehren, tiefer und tiefer einzudringen,
quält. Endlich sei noch der Schwierigkeiten
gedacht, denen jedes höhere Wesen eines
Kämpfers begegnet, dem alle von ihm ausge-
führten Schläge zu schwach, zu gering er-
scheinen, selbst wenn es Donnerschläge wären,
selbst wenn nach ihnen, wie nach den Schlägen
Thors, unverwischte Furchen auf dem Felsen-
antlitz der Erde verblieben.

Kein Wunder also, dass trotz und sogar
theilweise wegen ihres geistigen Reichthums
Kowalewskas literarisches Schaffen unbedeutend
war und dass sie ein anderes, geistig nicht
an sie heranreichendes Individuum zu Hilfe
nahm (Leffler), um ihre Begierden, ihre
Schmerzen und ihre Ideen, die ihr den Kopf
zersetzten, in ein concretes literarisches Ge-
wand zu hüllen. O Ironie des Schicksals! —
wie viele erbärmliche Schöpfer besitzen in
ihrem Schneiderlager die prächtigsten Ge-
wänder, um damit die faulenden Leichen zu
bekleiden, welche die Pest verbreiten, oder
auch die Puppen aus Sägespänen und Stroh,
mit denen sie, wie die Zauberkünstler in den
Jahrmarktbuden, den durch die Reclame her-
beigelockten Pöbel belustigen!

Also auch dieser Stütze war Kowalewska
beraubt, der Stütze, ohne welche selbst der
egoistische Goethe »verloren« wäre, wie er
selber sagt. Kann man es nun der Kowalewska
als Schwäche anrechnen, dass sie sich unter
der Last der Leiden beugte?

»Ein Unverwundbares, Unbegrabbares ist
an mir, ein Felsensprengendes: das heißt mein
Wille. Schweigsam und unverändert schreitet
es durch die Jahre.

Ja, noch bist du mir aller Gräber Zer-
trümmerer: Heil dir, mein Wille! « Und
doch beugte sich auch dieser so mächtige
Wille vor dem Hunger des Lebens.

Diese mächtigen Mittel genügen also nicht,
um den Schmerz und die Schläge zu besiegen,
die als Lawine auf das Haupt des kämpfenden
Menschen niederfallen. Es gilt also, sich noch um
eine Stufe auf der Scala der Macht des mensch-
lichen Geistes zu erheben, und zu diesem Zwecke
muss man noch tiefer in die menschliche
Natur hineingreifen, um daraus ein noch
dauerhafteres Erz hervorzubringen und eine
noch stärkere Waffe zu hauen.

In dem Schmerz als solchen muss man die
unmittelbare Quelle der Kraft suchen. Da-
bei denken wir nicht an die Resignation des
Schmerzes, nein: solch ein Menschentypus ist
für die Entwicklung der Menschheit ein wert-
loser, passiver Typus, das ist Ballast, das
ist — Kanonenfutter! Wir meinen nicht die
Resignation, sondern die Wuth des Schmerzes.

Nietzsches Zarathustra sagte: »Seid hart!«
aber hart ist die Natur und hart ist der Mensch
der Natur, der Thiermensch; es kann also der
Zukunftsmensch, der über-fühlende Mensch, der
Über-Mensch nicht hart sein. Goethe pries
die »Verzweiflung«. Seid rasend, und jede
»Härte« wird vor euch erzittern und erbleichen;
der Schmerz, die Schicksalsschläge — ihr werdet
sie nicht fürchten, sie werden euch nicht
brechen, denn sie werden für euch ein Element
werden, wie für andere das Glück!

Das ist durchaus keine leere Phrase, denn
das Leben des Organismus ist eine gewisse
Ausgleichung zwischen ihm und dem Medium;

* Diese constructiven und inhaltlichen Schwierigkeiten, auf welche Kowalewska in der Entwicklung des literarischen
Schaffens stieß, erklären uns, weshalb ihr oben betiteltes Werk ein »Tagebuch« ist (leichte Construction), und zwar aus
ihren »Kinderjahren« (größere Leichtigkeit, einzelne Erscheinungen zu erfassen und in der ursprünglichen Form
festzuhalten).

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 2, S. 38, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-02_n0038.html)