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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 2, S. 40

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MAUCLAIR: ÜBER DEN GEGENWÄRTIGEN STAND DER LITERARISCHEN KRITIK.

so fest geankert hat, dass sie ein Syn-
dicat und einen Club besitzen und sich
wie andere Zünfte zur Berufsgenossenschaft
zusammengeschlossen haben. Diese An-
schauung ist die Seele ihrer Berufswürde;
sie beeinflusst ihre Urtheile und erfüllt sie
mit Stolz und Hochmuth, wenn sie eine
Kunstgallerie betreten oder einen Band
zerreißen, den sie beurtheilen sollen. Ohne
diesen Corpsgeist würden sie vielleicht gar
nicht wagen, ein Urtheil zu fällen und in
Kunstsachen einen Bureaukratismus zur
Schau zu tragen, wie er vielleicht bei der
Registratur von Hypotheken am Platze
wäre. Dabei werden sie aber täglich von
Protestlern angegriffen; da diese sich
jedoch stets nur über ihre Strenge be-
klagen, ohne ihnen das Recht zum Ur-
theilen überhaupt zu bestreiten, so bleibt
der Geist ihrer Institution fest und uner-
schütterlich bestehen. Trotzdem ist die
Kritik in einen unglaublich tiefen
Verfall
gerathen, und zwar aus ganz
natürlichen Ursachen, die ich dem Leser
hier auseinandersetzen will.

Diese Ursachen sind materieller und
moralischer Art; die einen beeinflussen die
andern, und man kann der Frage direct
zu Leibe gehen, indem man zunächst die
materiellen Ursachen prüft. Diese haben
in der augenblicklichen Gestaltung der
Zeitungen und Revuen ihre Erklärung.
Die literarische Kritik existiert sozusagen
nicht mehr. Höchstens leisten sich noch
der »Temps« und die »Débats« den
Luxus einer regelmäßigen Kritik, die wie
früher ein ganzes Feuilleton einnimmt.
Versagen ihr nun die Zeitungsverleger den
Platz, weil sie von dem Niedergang der
Kritik als »literarisches Genre« überzeugt
sind, oder bildet die Kritik wegen dieser
Aschenbrödel-Stellung keine ernsthaften
Adepten mehr? Die Frage bleibt noch
zu lösen. Jedenfalls ist es Thatsache,
dass die guten, ernsten und würdigen
Blätter von früher todt sind, und dass die
Reportage und die Fülle telegra-
phischer
Informationen alle Zeitungen
dazu treiben, auf Annoncen und schnelle
Berichte ihr Hauptaugenmerk zu richten.
Natürlich müssen bei solchen Verhältnissen
die Gegenstände ausgeschieden werden,
die ein langsames Denken beanspruchen.
Die kritischen Geister, die noch auf ihre

Würde halten, werden abgeschreckt, und
die Chefredacteure finden sich unter
solchen Verhältnissen veranlasst, sie auf
die Monatsschriften zu verweisen. Wie
dem auch sein mag, die Presse kann nur
noch mit »Dampf« fabricierte Kritiken
veröffentlichen, die man dem Publicum
neben der Flut der Börsenberichte und den
von allen vier Weltenden eintreffenden
Telegrammen hinwirft. Diese Kritiken
können natürlich nur von oberflächlichen
Menschen in wertlosen, uninteressanten
Notizen verfasst werden, denn sie haben
ja keinen Platz, um die Werke auseinander-
zusetzen und das Talent der Autoren
zu studieren; der Raum reicht gerade
dazu aus, das betreffende Werk zu loben
oder zu tadeln.

Da der Zudrang im Vergleich zu der
Winzigkeit dieser Artikelchen ein ganz
enormer ist, so wird die Stellung Dem
zugesprochen, der die geringste Forde-
rung stellt; und angesichts der großen
Menge der nur aus Eitelkeit zusammen-
geschmierten Bücher sind die Zeitungs-
directoren zu der Überzeugung gelangt,
dass sie auch diese Rubrik ihrer Blätter
recht nutzbringend gestalten könnten,
indem sie der Reclamesucht der
»schreibenden Leute« einen Tribut abver-
langen. So haben sie das System der
bezahlten Reclame eingeführt, das
heute allgemein verbreitet ist, und es ist
fast unmöglich, über ein Werk etwas
Gutes zu sagen, ohne dass der Verleger
oder Autor an die Zeitung eine Ent-
schädigung
zahlt. Der Verleger über-
nimmt im allgemeinen die Abfassung der
Reclamenotiz, die man gemeinhin »Wasch-
zettel« nennt, und nach einem bestimmten
Tarif öffnet sich dem Werke das Sesam
eines richtigen Artikels, während für eine
Notiz von kleinerem Umfange gewöhnlich
die Insertionsgebüren bezahlt werden.
Die Zeitungen, die eine zu kleine Auflage
haben, um solche hohen Forderungen zu
stellen, verbannen die Kritiken, die doch
kein Mensch liest, auf die dritte Seite,
hinter die politischen Nachrichten, gerade
vor das Vermischte, und diese Recensionen
werden von Leuten verfasst, die zu dieser
Rolle nichts weiter mitbringen, als ihren
guten — Willen! Die lächelnde Sorg-
losigkeit, mit der unbekannte und unpro-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 2, S. 40, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-02_n0040.html)