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ductive Leute von heute auf morgen die
Bücherkritik übernehmen, gehört zu den
merkwürdigsten Verirrungen des mensch-
lichen Geistes, und es ist ein wahres
Glück, dass gerade der Missbrauch dieser
Verirrung der Kritik jede Bedeutung
nimmt, sonst würde der Verkehr der
Autoren mit den Lesern ganz und gar
in den Händen von etwa hundert Personen
liegen. Die eigenthümliche Gestaltung
des buchhändlerischen Verkaufes, der eine
recht traurige Sache ist, erschwert diesen
Verkehr schon ungemein; aber glücklicher-
weise hat auch das Publicum hierin einen
heilsamen Wandel geschaffen. Früher las
es seinen Kritiker und kaufte vertrauens-
voll die Bücher, die er ihm empfahl; auf
diese Weise konnte ein gebildeter Mann,
der das Feuilleton einer Zeitung leitete,
für talentvolle Leute nutzbringend wirken
und ihnen sogar eine Zukunft eröffnen.
Heute hat das Reclamcsystem das Publicum
misstrauisch gemacht; es wittert in allem
die bezahlte Annonce, und man hat fest-
gestellt, dass tausend Francs an bezahlten
Notizen den Verkauf noch nicht um hundert
Exemplare erhöhen.
Hoffen wir also, dass die Verleger und
Autoren die Thorheit einer solchen Aus-
gabe bald einsehen, selbst davon zurück-
kommen und den Zeitungen diese Ein-
nahmequellen verschließen werden.
Dann wird es zwar gar keine Kritik
mehr geben, aber das wird immer noch
besser sein, als die schmachvolle Annoncen-
Kritik. Inzwischen veröffentlichen die
kleinen Tageszeitungen nach wie vor kleine
Berichte, die keinen ihrer Leser zu irgend
welchen Bücherkauf veranlassen, und die
irgendein unbekannter Scribifex zusammen-
kritzelt. Ich habe es zehnmal bei der
Gründung einer Zeitung miterlebt, wie sich
der künftige Redactions-Secretär im Wirr-
warr der constituierenden Versammlung
zu irgendeinem Freunde wandte und in
dem (seinem Berufe eigenen) sorglosen
Tone sagte: »Du, Dingsda, willst du die
Bücher besprechen?« worauf Herr Dingsda
mit der größten Gemüthsruhe antwortete:
»Ja, auf diese Weise bekomme ich
wenigstens Bücher zusammen«, wobei er
innerlich hinzufügt: »um sie am Schlusse
des Monats bei den Antiquaren zu ver-
kaufen«. Unter solchen wenig glänzenden
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Bedingungen wird die Kritik ausgeübt,
mit Ausnahme des »Temps« und der
»Débats«, wo ein regelrechter Referent
angestellt ist; im »Journal« findet man
vereinzelt eine Bücherkritik; doch muss
Armand Silvestre hier zwanzig Bände in
200 Zeilen besprechen — zwanzig Bände
von 200, die eingehen. Im »Echo de
Paris« existiert die Kritik nicht mehr;
selbst die Rubrik, die Lepelletier von Zeit
zu Zeit füllte, ist ausgefallen. Dabei gelten
diese Zeitungen als specifisch »literarisch«,
und das Publicum, das sich mit Kunst
beschäftigt, liest sie vorzugsweise. Das-
selbe gilt für den »Figaro«, wo Philippe
Gille seine feinen Urtheile auf kurze
Notizen beschränkt. Das ist — mit der
bezahlten Annonce — alles. Zwei kritische
Übersichten — das ist alles, was der
Pariser Journalismus zu leisten vermag,
und auch dieses Wenige verdankt man
nur dem reactionären Geiste des »Temps«
und der »Débats«, die durch ihre strenge
Haltung gegen den brutalen Amerikanismus
Front machen wollen.
Man verspottet diese Blätter wegen
ihrer feierlichen und spießbürgerlichen
Manieren, doch man thut Unrecht daran,
denn bald werden nur sie allein die fran-
zösische Presse in Frankreich vertreten
und den geistigen Fragen einen würdigen
Platz offen halten, ohne sie von der täg-
lichen Flut der Notizen und Informationen
verdrängen zu lassen.
Kann man unter solchen Umständen
eine Neubelebung der Kritik erhoffen?
Nein! Sie ist verurtheilt, in kurzer Zeit
gänzlich zu verschwinden. Die regelmäßig
erscheinenden Feuilletons werden abge-
schafft werden, an ihre Stelle werden in
immer längeren Zwischenräumen Artikel
treten, und so wird es bald aus sein.
Heutzutage wird es selbst einem geachteten
Schriftsteller schwer, im Laufe einer Plau-
derei von einem Buche zu sprechen, wenn
er nicht befürchten will, dass sein Lob
von dem Verlage der Zeitung als Reclame
angesehen wird. So ist der Journalismus
das Element, das jede Kritik methodisch
zerstört.
Es bleiben noch die Revuen, die einzigen
Hüterinnen der französischen Literatur,
die einzigen anständigen Orte, wo der
Schriftsteller nach seinem Verstand be-
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