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handelt wird; hier hat er Raum, seine
Ideen auseinanderzusetzen; hier findet er
ein ernsthaftes Publicum, das ihn zu lesen
vermag; aber wenn man auch in den
Revuen von einem Autor ganz nach
seinem Belieben sprechen kann, die Bücher-
kritik ist auch hier auf ein Minimum
reduciert. So beschränken die »Revue des
deux Mondes«, die »Quinzaine«, die
»Revue de Paris«, die »Revue Bleue«
und die »Grande Revue« die Bibliographie
auf zwei Seiten des Deckel-Umschlages.
Nur die »Nouvelle Revue«, die »Revue
des Revues«, der »Mercure de France«
und die »Revue Blanche« nehmen in
jeder Nummer eine einheitliche und aus-
gedehnte literarische Kritik auf. Die
»Revue Bleue« und die »Revue Ency-
clopédique« veröffentlichen von Zeit zu
Zeit eine »Bücherschau«. Das alles ge-
schieht mit hervorragender Gewissen-
haftigkeit und großem Verständnis, genügt
aber trotzdem nicht, um der ungeheuren
Aufgabe gerecht zu werden. Meistens
beschränkt sich der Kritiker darauf, auf
das Werk hinzuweisen, liebenswürdige oder
strenge Dinge darüber zu sagen; mehr
aber kann er gar nicht thun, selbst wenn
er eine sehr beschränkte Anzahl von
Bänden wählt und alle übrigen der Ver-
gessenheit anheimfallen lässt. Die beste
Kritik ist noch immer die Auslage der
Buchhändler, das Publicum braucht sich
nur hineinzutrauen; leider aber hat man
es daran gewöhnt, dieses Wagnis nur
auf den Rath der Kritiker zu unternehmen.
»Es ist, um verrückt zu werden!« sagte
eines Tages ein Freund zu mir; »warum
kaufen denn die Leute das eine Buch
und nicht lieber ein anderes?« Weil ein
ihnen ganz unbekannter Herr in der
Zeitung geschrieben hat, sie müssten es
kaufen! Welches Recht von Gottes Gnaden
besitzt dieser Mann, dass die Leute sich
schon am Sonntag zu seiner Meinung
bekehren, wenn er am Sonnabend in einem
Blatte seine Thätigkeit ausgeübt hat?
Wenn er ihnen dagegen zu einer Speise
rathen würde, so würden sie zögern und
zuerst fragen, ob der Herr auch ihre
Geschmacksrichtung besitzt. Das ist natür-
lich übertrieben, aber es steckt doch ein
Körnchen Wahrheit darin. Darauf beruht
die Daseinsberechtigung der Kritiker. Der
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Zauber der Druckerschwärze muss heute
wohl noch eine ebenso starke Wirkung
ausüben, wie in der guten alten Zeit.
Auch die bezahlte Reclame vernichtet
diesen Zauber nicht, denn wenn die Leute
auch ahnen, dass das Lob, das sie lesen,
200 Francs gekostet hat, so haben sie
trotzdem einen instinctiven Respect, den
Respect vor der Publicität. Man wird mir
einwerfen, das wäre in allen Ländern
ebenso und die »Ruhmesfabrication« wäre
überall in gleicher Weise vorgeschritten.
Das gilt für viele Länder nicht, nament-
lich nicht für England, wo die Blätter in
bedeutendem Umfange erscheinen, wo es
viele Revuen gibt und das Studium der
Bücher sehr eingehend verfolgt wird.
Aber wenn es im Princip richtig ist, dass
die dramatische Kritik noch immer auf
einer gewissen Höhe bleibt, weil sie den
Theater-Directoren finanziell unbedingt
nothwendig ist und eine Menge materieller
Interessen befriedigt, so ist es ebenso
wahr, dass die literarische Kritik dahin-
siecht, weil sie sich nur mit geistigen
Fragen beschäftigt, die nur eine geringe
Minderheit interessieren oder Bücher be-
rücksichtigt, denen ein leichter Erfolg
beschieden ist, welche die bezahlte Reclame
lanciert, ohne dass sie einer ernsteren
Kritik bedürfen.
Die moralischen Ursachen sind nicht
weniger bedeutend. Wenn man die zahl-
reichen Verfasser dieser obenerwähnten
wertlosen Urtheile, welche die von ihnen
mit liebenswürdiger Sorglosigkeit aus-
gefüllte Stellung ebensogut gegen eine
andere vertauschen würden, aus der
modernen Kritik ausscheidet, so sieht man
sich einer kleinen Anzahl von Personen
gegenüber, die wenigstens die Verant-
wortlichkeit verstehen, die sie auf sich
nehmen, wenn sie einem Buche, das
monatelange Arbeit gekostet hat, 20 oder
30 Zeilen widmen. Diese Personen können
nur zwei Kategorien angehören; entweder
besitzen sie einen Sectierergeist oder sie
besitzen ein freies und weites Verständ-
nis. Im ersteren Falle sitzen sie zu Gericht
und zerreißen die Werke, und ihre Ur-
theile sind von einem System vorgefasster
Ideen beeinflusst. Wir leben nun in einer
Zeit, wo nur noch sehr wenige Wesen
auf dieser Anschauungsweise verharren.
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