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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 2, S. 43

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MAUCLAIR: ÜBER DEN GEGENWÄRTIGEN STAND DER LITERARISCHEN KRITIK.

Der pedantische, akademische Geist wird
von dem großen Gefühl allgemeiner Unab-
hängigkeit vernichtet, das diese ganze
Jahrhundertwende durchströmt. Ein dog-
matischer Kritiker erscheint uns heutzu-
tage wie ein Mensch aus vergangenen
Zeiten. Überall wundert und entrüstet
man sich zum Beispiel über die autori-
tativen Manieren und den feierlichen Ton,
der Ferdinand Brunetière kennzeichnet.
Brunetière ist ein Kritiker, wie es viele
gibt, und er hat keine besondere Eigenart
aufzuweisen. Er ist der Kritiker, wie ihn
das »Genre« selbst verlangt. Er ist ge-
bildet, hat von allem seine feste Über-
zeugung und hat sich, als er in das Alter
kam, wo man einen Beruf wählen muss,
gesagt: »Ich werde die Bücher der Anderen
kritisieren.« Er zweifelt nicht, er besitzt
keine nervöse Sensibilität und kennt
keine seelische Erschütterung. Er ist ein
dogmatischer Logiker, der alle geistigen
Productionen in bestimmte Kategorien
geordnet und die guten Kategorien im
Namen eines bestimmten moralischen End-
zwecks der Kunst von den bösen geson-
dert hat. Er verwendet deshalb seinen
Apparat — einzelne vergleichen ihn mit
einem Prokrustesbett — auf jedes neu
erscheinende Buch und hat so den Zweifel
durch die Logik getödtet. Brunetière ist
ein sehr ernster und ehrenhafter Mann
und von der Berechtigung seines Berufes,
ja sogar von seiner Mission fest über-
zeugt. Seiner Ansicht nach existiert der
Kritiker, muss existieren und das sein,
was er ist. Für ihn ist der Kritiker der
wachsame und strenge Schäferhund, der
die launenhaften literarischen Hammel —
wenn es sein muss, mit den Zähnen —
auf den Weg des socialen Guten zurück-
führt. Er betrachtet die Thätigkeit des
Schreibens als eine Staatscarrière, die der
Nation von Nutzen sein muss, und die
Rolle des Kritikers als die eines Beamten;
er ist ebenso überzeugt, wie die Professoren
der Akademie der schönen Künste, die
die Lehrmethode der Malerei noch immer
fortsetzen und nicht zugeben wollen, dass
die Kunst sich nicht lehren lässt. Dieser
Fall ist heute selten, aber er existiert noch.
Allerdings wird der Einfluss solcher Männer
bald vollständig verschwinden. Wie die
Schar der jungen Maler einem Claude,

Monet, Besnard, Carrière oder Whistler
folgt, ohne sich weiter um die Schule
und die Herren Bouguereau oder Gérôme
zu kümmern, ebenso schafft eine ganze
Generation von Romanschriftstellern und
Poeten den impressionistischen Roman und
den freien Vers, ohne nach der Erlaubnis
oder dem Verbot des Herrn Brunetière
zu fragen, der noch vor fünfzig Jahren
die Ideen vieler Leute nach seinen eigenen
umgeformt hätte. Die Sectierer schwinden,
und der übertriebene Dogmatismus erregt
Lächeln; der Glaube an die patentierte
Kritik existiert nicht mehr.

Die verständnisvollen und freien Geister,
auf die wir jetzt zu sprechen kommen,
sind von einem neuen Gefühl angekränkelt,
das einem allzugroßen Zartgefühl ent-
springt; sie halten es für lächerlich, über-
haupt ein Urtheil auszusprechen. Die durch
Classen, Diplome und Titel disciplinierte
Universität schien die Hochwart der dog-
matischen Kritik werden zu wollen; doch
sie hat diese Hoffnung getäuscht. Sie
bringt nur impressionistische Kritiker her-
vor, die nur ihre Empfindung aussprechen,
jedes Urtheil vermeiden und alles thun,
um einen artigen und leichten Ton bei-
zubehalten. Jules Lemaître war der Ent-
decker des Genres, und das Glück, das
er gehabt, es hat einer ganzen Reihe von
früheren »Normalschülern« die Richtung
gewiesen. Gaston Deschamps und René
Doumie treten in seine Fußtapfen. Emile
Faguet, der sicherlich der ernsthafteste
Intellectuelle und die solideste moralische
Persönlichkeit unter unseren sämmtlichen
Kritikern ist, hat sich durch die breite Offen-
heit seiner Intelligenz und die klare Schön-
heit eines alle Intriguen und Kleinlichkeiten
des Streberthums verachtenden Charakters
dieser falschen Situation entzogen. Aber
wie weit liegen die Urtheile eines Vito,
eines Wolff, die einst eine wahre Schreckens-
herrschaft übten! Die heutigen Kritiker
fühlen sich alle in ihrer Rolle unbehaglich
und sind sich der hohlen Aufgeblasenheit
derselben vollauf bewusst. Sie misstrauen
sich selber und entschuldigen sich, dass
sie eingeschworene Kritiker sind, die einen
mit Bonhommie, die anderen mit einem
unentschlossenen Opportunismus, andere
wieder mit einem Boulevard-Ton — aber
alle entschuldigen sich. Sie erliegen eben

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 2, S. 43, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-02_n0043.html)