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der Unabhängigkeits-Krisis des modernen
Individualismus. Sie gedenken der unge-
heuren Reihe falscher Urtheile, die ihre
Vorgänger über bewundernswerte Künstler
gefällt, die sie heute mit Ehrfurcht be-
grüßen, und deshalb erfasst sie bei jeder
Neuerung, selbst wenn sie nichts davon
verstehen, ein sehr ehrenwerter Scrupel,
ob sie nicht auch für die Zukunft eine
schwere Schuld auf ihr Haupt laden. Sie
haben keine fertige Ästhetik mehr, be-
rufen sich nicht mehr auf eine Gesammt-
idee, sondern plänkeln vereinzelt. Die
impressionistische Kritik ist für die Kritik
der Anfang vom Ende; nur die Mittel-
mäßigen, die Bindeglieder zwischen der
bezahlten Reclame und den ernsthaften
Literaten, glauben sich noch im Besitze
einer Machtstellung, lärmen in den Syn-
dicaten und den Clubs, sprechen laut von
ihren Rechten und lassen sich ihre Nach-
sicht bezahlen. Gerade sie tragen durch
ihren Mangel an Takt und durch den
Missbrauch, den sie mit ihrer Stellung
treiben, zum Verfall der Kritik bei. Sie
zersetzen die Autoren regelrecht und um-
schwirren die vornehme französische
Literatur. Da die Organisation der Presse
ihren Urtheilen keinerlei Einfluss auf den
Verkauf der Bücher einräumt, so beachtet
man sie fast gar nicht, sondern hält sich
vielmehr an die Meinung und den Bericht
von zehn Leuten, die für die großen
Revuen und die großen Tageszeitungen
schreiben.
Wie könnte sich nun unter
solchen Verhältnissen die Rolle
einer Kritik wirklich gestalten?
Bis jetzt wird sie von dem Mechanismus
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der Publicität ebensosehr beeinträchtigt,
wie von der Geistesströmung der Neuzeit.
Sie übt keine wahre Wirkung mehr aus
und kann auch keine mehr ausüben, denn
sie weiß nicht, wo sie sich aussprechen
soll und ist von ihrer Mission nicht mehr
überzeugt. Ihre Rolle muss sich vollständig
verändern, und die Zeit ist gekommen,
wo sie, wie alle modernen socialen Be-
strebungen, eine ganz andere Bedeutung
annehmen muss. Sie darf sich nicht darauf
beschränken, das Publicum auf einige
literarische Neuheiten hinzuweisen, denn
dazu genügt die von einigen Kulis redi-
gierte Reclame. Sie muss sich eine neue
Bahn eröffnen, und diese neue Bahn
wollen wir jetzt einmal etwas näher be-
trachten.
Trotz des gerechten Zornes, den die
Pedanterie, der Taktmangel und die von
vielen modernen Kritikern geübten Miss-
bräuche hervorgerufen haben, darf man
nicht vergessen, dass der menschliche
Geist kritisch veranlagt ist und dieses litera-
rische Genre auch infolgedessen seine
Daseinsberechtigung hat. Es ist über
diesen Punkt viel hin- und hergeredet
worden. Es gibt thatsächlich eine ganze
Classe hervorragender Intelligenzen, die
wenig Empfindungsgabe besitzen, denen
aber dafür der Sinn für Analyse und
Synthese und der Takt für die Bewertung
eines Werkes in hohem Grade eigen ist.
Es ist unlogisch, sie von heute zu morgen
über eine größere Anzahl von Büchern
Urtheile zusammenschmieren zu lassen,
aber ebenso unrecht wäre es, wollte man
sie brachliegen lassen.
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