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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 2, S. 45

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LINDNER: LAVATER.

verthat, mag lediglich Denen von Interesse
sein, deren Beruf es ist, der Langweile
verwitterter Epochen in akademischen Filz-
schuhen nachzuhinken. Auch seine Moral-
philosophie, sein ethisches Apostelthum, sein
prophetisch-propagandistisch-pastorales Ge-
haben, das schließlich in die Verwun-
derung auslief: »wie ein Mensch überhaupt
leben und athmen könne, ohne zugleich
ein Christ zu sein« —, seine gesammte
theologische, nicht eben weitherzige Heils-
lehre und all das andere schwatzhafte Brim-
borium, das jede proselytenmacherische,
programmatische, tendenziöse Persönlich-
keit mit abschreckenden Dunstkreisen um-
gibt — all das, was diesen so milden
und reinen Mann zum »Gewissensrath«
Deutschlands erhoben und ihm unstreitig
einen nachhaltigen Einfluss auf das
religiöse und ethische Empfinden seiner
Zeitgenossen erwirkt hat — — dies alles
braucht hier nicht ernstlich gewürdigt zu
werden, da es des öfteren schon von zu-
ständiger Seite zum Gegenstande unfrucht-
barer Untersuchungen gemacht wurde. Hier
soll ganz im Gegentheil jener große Trieb
zu seelischer Verinnerlichung hervorgehoben
werden, der ihn in den lautersten Jahren
seines Lebens unbewusst geleitet und zu der
Entdeckung geheimer Innenkräfte getrieben
hat! Durch Selbstzucht ward Lavatern
die seltene Fähigkeit, den wunderthätigen
Regungen der Seele geflissentlich nach-
zuspüren, sie organisch zu entwickeln und
zu einer Quelle intuitiver Erleuchtung zu
machen. Dass man ihn darob verspottete,
wie man heute noch jedes ähnliche Streben
verlästert, ist als selbstverständlich zu re-
gistrieren. »Lavater glaubte an Cagliostro
und dessen Wunder«, erzählt Goethe.
»Als man ihn entlarvt hatte, behauptete
Lavater, dies — sei ein anderer Cagli-
ostro, der Wunderthäter Cagliostro sei
eine heilige Person!« Mit anderen
Worten: Die Welt, in der ich lebe,
kenne ich nur, soweit sie in mir lebt.
Die Welt, die in mir lebt, lügt nicht.
Beweist man mir altklug, dass sie gelogen
hat, so wird mir erst doppelt klar, dass
sie wahr gesprochen, weil dann alle Welt,
in der ich nicht lebe und die nicht in
mir ist, Lüge sein muss. Was will man
mehr? Ein gründlicherer Triumph des Sub-
jectivobjects und seiner buntgesprenkelten

Prestidigitatorenlogik lässt sich nicht denken.
Dass solche Menschen ein notwendiger
Segen sind, empfinden wir namentlich in
den Tagen unserer Jugend (da wir den
Zusammenhang mit dem All noch nicht
ganz verloren haben) und in den Tagen
unseres Alters (da wir den Zusammenhang
mit dem All aufs neue zu gewinnen
scheinen). Ein eclatantes Beispiel scheint
Goethe. Der junge Goethe (der Goethe der
Leipziger Briefe und Strassburger Lieder),
der mit Lavater oft brüderlich in einem
und demselben Bette geschlafen, und der
alte Goethe, der in den zweiten Theil
»Faust« mehr Lavaterei hineingelegt, als
ihm wohl selber zu Bewusstsein ge-
kommen, hat sich in den Tagen seiner
»Mannesklarheit« von dem einst so Geliebten
losgesagt, weil Johann Kaspar, der Gute,
»sich und Andere belog«, »gewaltigen
Täuschungen unterworfen« war und die
»ganz strenge Wahrheit« nicht kannte.
Dieser »Mysticismus« lag eben tief im
Innersten seiner Natur begründet. Da er
kein Dichter war, konnte sich sein Mysti-
cismus nicht, wie bei Goethe, auf
erhöhte Augenblicke des Schaffens be-
schränken, blieb vielmehr stets gegen-
wärtig, vermochte sich nicht, wie bei
Goethe, in bestimmte Explosionspunkte
zu sammeln, musste daher den Eindruck der
künstlerisch ungerechtfertigten Schwäche
machen. Seine Predigten und Herzens-
worte, aus deren übergroßem Reichthum
unsere Pastoren, Pfarrer, Rabbiner zu
ihrem eigenen Vortheil stehlen sollten,
statt ewiglich ihren gedankenlosen Brei
zu treten — sind von einer heilsamen Ver-
ehrung für alles Gotteskräftige, Zeugungs-
kräftige, Naturkräftige erfüllt und verlieren
sich nur selten in sophistische Speculationen.
Als anno domini 1786 der Magnetismus aus
dem Elsass in die Schweiz kam, beugte sich
Kaspar, der Böffchenträger, vor dieser
»neuen Art von Strahlen«, die ihm aus
dem Herzen des Alls zu kommen schienen,
versetzte alsbald seine kranke Frau in einen
hellsehenden Zustand, weckte in ihr den
Somnambulismus nach dem Puységur’schen
Verfahren, heilte sie und viele Andere
auf diesem ungewöhnlichen Wege und
gelangte so zu dem Caeterum censeo:
»Ich verehre diese neu sich zei-
gende Kraft als einen Strahl der

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 2, S. 45, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-02_n0045.html)