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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 50

Text

PHILOKTET ODER DER TRACTAT VON DEN DREI
LEBENSANSCHAUUNGEN
.
Von ANDRÉ GIDE.
Übersetzt von RUDOLF KASSNER .

Ein grauer und niedriger Himmel über
einer Ebene von Schnee und Eis
.

I. Act. 1. Scene.

Ulysses und Neoptolemos.

Neoptolemos: Ulysses, alles ist
bereit. Das Boot ist festgebunden. Ich
habe das Wasser gewählt dort, wo es
tief und vor dem Nordwind geschützt
ist, aus Furcht, das Meer könne ge-
frieren. Und wenn auch diese kalte
Insel nur von Strandvögeln bewohnt
zu sein scheint, so habe ich doch das
Boot an eine Küste gebracht, wo kein
Vorbeigehender es zu sehen vermöchte.
Auch meine Seele ist bereit; meine
Seele ist bereit für das Opfer. Ulysses!
sprich jetzt; alles ist bereit! Über die
Ruder oder den Helm gebeugt, sprachst
du durch vierzehn Tage hindurch nichts
als rohe Worte von Ränken, die uns
vor den Wogen wahren sollten; vor
diesem beharrlichen Schweigen hielt
ich meine Fragen zurück und begriff,
wie eine große Trauer deine Seele
bedrückte, da du mich in den Tod
führtest. Und ich schwieg, da ich fühlte,
dass alle Worte uns zu schnell hinweg-
getragen würden vom Winde über das
unendliche Meer. Ich wartete. Ich sah,
wie hinter uns und dem Horizont des
Meeres die schöne skyrische Küste, wo
mein Vater gekämpft hatte, wich und
die Goldsandinseln flohen und die Inseln
aus jenem Gestein, das ich so sehr
liebte, weil ich sie jenen von Pylos
ähnlich glaubte; dreizehnmal sah ich
die Sonne ins Meer treten und jeden
Morgen kam sie bleicher aus den Wogen
und nur, um langsamer und weniger

hoch zu steigen, bis endlich am vier-
zehnten Morgen wir sie umsonst er-
warteten; und seitdem leben wir wie
jenseits von Tag und Nacht. Eisblöcke
glitten über das Meer; dieses ewige,
bleiche Leuchten nahm mir den Schlaf,
und wenn ich etwas vernahm, so waren
es nur die Worte, mit denen du mir
neue Sandbänke anzeigtest, vor denen
uns ein Stoß mit dem Ruder rettete.

Jetzt sprich, Ulysses; meine Seele
ist bereit, nicht wie die Böcke des
Bacchus, die man, geschmückt mit den
Kränzen der Feste, zum Opfer führt,
sondern wie Iphigenie, die einfach und
schmucklos und ohne Geberden zum
Altare schritt. Wahrlich, auch ich hätte
wie sie ohne Klagen und für mein
Vaterland sterben wollen, vor allen
Griechen und auf sonnenumarmter
Erde sterben und durch meinen Tod,
den man annahm, meine ganze Ehr-
furcht vor den Göttern zeigen wollen
und alle Schönheit meiner Seele; denn
diese ist stark und hat noch nicht ge-
kämpft! Hart ist es, ohne Ruhm zu
sterben und doch, o Götter, bin
ich ohne Bitternis und habe langsam
alles hinter mir gelassen, die Menschen
und Sonnengestade und jetzt, wo
wir gelandet sind an dieser unwirt-
lichen Insel ohne Bäume und Sonnen-
strahlen, mit Schnee über den Wiesen,
wo alle Dinge im Eise erstarrt sind
und der Himmel so weiß, so grau ist,
dass er uns wie eine weiße Schnee-
decke erscheint, hier fern von allem,
so fern von allem, hier scheint es, als
sei der Tod schon da und die Gedanken
würden mir immer kälter und reiner,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 50, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-03_n0050.html)