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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 76

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RUNDSCHAU.

weiterhin mehrbändige Romane und
fünfactige Schauspiele auf dem Markt
erscheinen (es gibt ja auch noch
Epiker) so kann das wohl den Ver-
fassern Tantiemen eintragen, ist aber für
die Evolution nicht vorhanden; sie
kennt kein künstliches Galvanisieren von
Formleichen. Die fortschreitende Con-
centrierung der Kräfte muss naturgemäß
zum Verzicht auf die bisherigen Peripherien
zwingen; die dadurch bedingte scheinbare
Auflösung technischer Mittel für ein Ver-
fallszeichen auszugeben, erinnert etwa an
den vergeblichen Widerstand der Medicin-
männer gegen die von innen arbeitende
Naturheilkunde. Die alten Formen sind
auf der Fabel basiert und auf zeitlich
empfindende Menschen berechnet; einmal
über den Aberglauben an die »Handlung«
hinaus deren Formen trotzdem noch zu
verwenden, bedeutet entweder eine Selbst-
täuschung, oder eine Täuschung Anderer.
Peter Altenbergs Wirkungen z. B. beruhen
in dem Verzicht auf alle ihm fremde
Mittel; er versucht es nicht, »spannend«
zu schreiben; das Eintreten der höheren
Kräfte löst eben solche Spannungen.

Gerade das Wichtigste ist durch die Action
nicht darstellbar, und der Versuch, Zeit-
loses in die Formen des Zeitlichen zu
pressen, scheitert immer; wollte man aus
den Passionsspielen, welche letzten Sommer
sehr gewirkt haben, die üblichen fünf
Aufzüge machen, so würde das wohl
ebenso missglücken, wie der kürzlich an-
gestellte Versuch, Buddhistisches auf die
Bühne zu bringen oder die Schiller’sche
»Jungfrau«, welche Hebbel mit Recht eine
»unerträgliche Verpfuschung des bedeu-
tendsten Stoffes« nennt. — Diese Zwie-
gespräche, deren erstes, Der Garten, hier ab-
gedruckt war, geben die unmittelbar
visionshafte Darstellung eines Seelen-
Auslandes im Augenblicke der Selbstüber-
windung; es ist der Querschnitt, der die
Construction bloßlegt. Zu ihrer stärksten
Wirkung gelangt diese Form, wenn sie
empfinden lässt, dass die Redenden nur
verschieden beleuchtete Seiten ein und
desselben Bewusstseins vertreten, was
lediglich durch, hier nicht immer ge-
lungene, intensive Stilisierung der Sprache
erreichbar ist. —.—


Heransgeber: Felix Rappaport. — Verantwortlicher Redacteur: Anton Lindner.

K. k. Hoftheater-Druckerei, Wien, I., Wollzeile 17. (Verantwortl. A. Rimrich.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 3, S. 76, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-03_n0076.html)