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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 4, S. 78

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BRYK: DIE ÄSTHETISCHE NATURBETRACHTUNG KEPLERS.

Die eben erwähnte Art der Natur-
betrachtung steht der künstlerischen Welt-
auffassung näher als der im eigentlichen
Sinne so genannten wissenschaftlichen
Behandlung und Verwertung der That-
sachen. Denn die Kunst wird gerne definiert
als das Vermögen, einen Weltausschnitt
darzustellen, nicht, wie es sich den Sinnen
schlechtweg darstellt, sondern wie es von
einem bestimmten (»genialen«) Bewusstsein
angesehen wird, welches das Angeschaute
nach außen verlegt, in der tief wurzeln-
den Überzeugung, dass die Art und Weise,
wie es die Dinge ansehe, dem Wesen
der Dinge selbst conform sei. Hinwieder
liebt man es, die Wissenschaft zu be-
zeichnen als die Summe des nur in den
Dingen und an den Dingen allein Er-
kannten, wie es sich jedem Bewusstsein,
und nicht bloß dem genialen, nothge-
drungen darstellen muss. Geht man der
Definition der Wissenschaft eingehender
nach, und verfolgt man im speciellen die
Entwicklungsgeschichte der einzelnen Disci-
plinen, so überzeugt man sich bald, dass
nur die »wissenschaftliche Beschreibung«
des einen oder anderen Phänomens in
Wahrheit der angeführten Definition ent-
spricht; dass das Concipieren wissenschaft-
licher Systeme jedoch ohne die An-
nahme subjectiver Bewusstseinsmomente
geradezu unerklärlich wird. Wäre es anders,
so wäre jedermann schon von Natur aus
der bedeutendste Naturforscher, da es ja
niemandem einfallen kann, physikalische
Vorgänge anders zu sehen, als sie that-
sächlich vor sich gehen.

Aber nicht bloß der Umstand, dass
einige Wenige die natürlichen Vorgänge
anders ansehen als die Übrigen, lässt
eine Analogie zwischen künstlerischer und
wissenschaftlicher Weltbetrachtung — im
üblichen Sinne dieser Bezeichnungen — ver-
muthen, sondern mehr noch die viel zu
wenig gewürdigte Thatsache, dass sich
der wahre Naturforscher durch einen ihm
selbst unerklärlichen Zwang bestimmt sieht,
seinen eigenen Ahnungen kosmologische
Bedeutsamkeit zu unterlegen. Es ist eine
Wahrheit, die niemand im Ernste be-
zweifeln wird: zuerst wird geahnt, dann
erst erschlossen, bewiesen, demonstriert.

Eine weitere Analogie ergibt sich,
wenn die Beziehungen des Traumlebens

zur künstlerischen Thätigkeit ins Auge ge-
fasst werden, die Schopenhauer zum
erstenmale mit meisterhafter Klarheit ent-
wirrt hat. Ihm verdankt man die fein-
sinnige Beobachtung, dass die Phantasie-
gebilde des wachen Durchschnittsmenschen
nie jene Klarheit besitzen, die ihn im
Traume bald in ein Wonnemeer versinken,
bald in schauerliche Abgründe stürzen
lässt. Die Phantasiebilder der Wachenden
sind unbestimmt, schattenhaft vag, die
Vorstellungen der Träumenden plastisch,
farbig und bestimmt. Nur dem genialen
Gehirn gelingt es, auch im wachen Zu-
stande die Dinge in ihrer farbenprächtigen
Plasticität zu schauen, die cerebral ent-
standenen Bilder centrifugal nach außen
zu leiten und durch ein sinnliches Mittel
zu fixieren. Dem gestaltenden Künstler
gleich, coordiniert der geniale Naturforscher
mit der wahrgenommenen Erscheinung ein
Symbol, das nirgends aus der Erfahrung
geschöpft wurde, das allein seinem reichen
Innenleben Entstehung verdankt — und
verlegt es nach außen, in die Welt der
Töne und Farben. Im wachen Traume
sieht er die Welt in krystallener Klarheit,
nicht durchwühlt vom »Streit der sich
stoßenden Dinge«, und hinter diesem
durchsichtigen Gebilde die Welt des
fliehenden Scheines, wie sie so seltsam
übereinstimmt mit den geisterhaften Ge-
stalten seines ruhig verharrenden Traum-
bildes. Aus dem Kampfgetümmel dringt
die Klage um Frieden und Ruhe. Aber
was das dumpfe Ohr nicht mehr ver-
nimmt, was das schwache Auge nicht
mehr erblickt, zaubert das denkgewaltige
Gehirn hervor aus dem Reiche der Schatten,
in krausen, seltsamen Schriftzeichen, in
denen die ewige Wahrheit wieder auf-
ersteht, von der unendlichen Harmonie der
Welt, von der uralten »Harmonice mundi«.

Solch ein Wach- und Wahrträumer im
Reiche der Wissenschaft, solch ein tief-
sinniger Schlafwandler und Weltenwanderer,
ein »Kosmotheoros«, war Johannes Kepler.
Ihm, der tief eingedrungen war in die
geheimnisvolle und doch so lichtvolle Lehre
der Pythagoräer, dem Plato im »Philo-
laos« und »Timaeos« so viel enthüllt hatte
über die mystische Harmonie aller krei-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 4, S. 78, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-04_n0078.html)