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nomicum“ — eine durch die Mars-Beobach-
tungen Schiaparellis äußerst wahrschein-
lich gewordene Hypothese.
Die ganze Geschichte der Natur-
wissenschaft kennt keinen ähnlichen Fall,
bei welchem ein einziger Mann, nur der
Kraft und Schönheit seiner Welt-
auffassung vertrauend, eine solche Fülle
von früher ungeahnten, fruchtbaren Hypo-
thesen, ohne exacte Begründung, gleichsam
im Fiebertraume des Schaffens aufstellte.
Gegenüber solchen Thaten verschwindet,
was kleinliches Pedantenthum an dem
organischen Wunderbau der Kepler’schen
Schriften auszusetzen findet, und was —
gegebenenfalls — allein dem mächtigen
Einflusse eines finsteren Zeitgeistes zu-
geschrieben werden muss.
Rein psychologisch betrachtet und
losgelöst von seiner wissenschaftlichen
Bedeutung, erscheint Kepler als der
Wenigen Einer, der, gleich Giordano
Bruno, tief im Innern fühlt, was draußen
die Welt bewegt, der sich Eins weiß mit
dem Kosmos, und der in unendlicher Liebe
zur Welt sein eigenes Empfindungsleben
auf sie überträgt. Wie er selbst die Macht
der Harmonie kennt, so setzt er auch vom
Sonnensystem voraus, dass es dieselben
Zahlenverhältnisse, wie er, das Einzelwesen,
harmonisch appercipiert und in ihnen
seine Befriedigung findet. Für ihn, den
letzten großen Pythagoräer, gewinnt die
Musik die Leidenschaften bezähmende,
kosmische Bedeutung. Aus musikalischen
Gesetzen construiert Kepler die Welt.
Der ganze, gewaltige Apparat der Geo-
metrie, Mathematik und Astronomie rückt
auf, um es der Menschheit zu verkünden,
dass das Weltsystem ohne Leid in ruhiger,
ewiger Harmonie seine Bahn geht. Es hat die
höchste Erkenntnis erreicht, und ist ohne
jegliches Begehren. So soll das Sonnen-
system zu einem bewussten Wesen, dem
Empfindungswerte nach Analogie des
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unserigen zugeschrieben werden. An Stelle
der mechanischen Natur mit ihren Zug-
und Druckkräften tritt die organische mit
ihren ansteigenden Daseinsstufen.
Aber auch vom objectiv-wissenschaft-
lichen Standpunkte wird ihm niemand die
höchste Würdigung versagen dürfen:
Entdecker der drei großen Gesetze, die
seinen Namen tragen, gebürt ihm ein
Haupt-Antheil an der Erforschung der
mechanischen Gesetze der Planetenbewe-
gung und damit der Massenbewegung
überhaupt. Seinen mathematischen Tief-
sinn hat de la Place hervorgehoben, den
niemand im Verdachte haben wird, gegen-
über den Verfechtern der mystisch-sym-
bolischen Naturbetrachtung jemals Conni-
venz gezeigt zu haben. Die Erfindung
des Fernrohres weist ihm einen Platz an
unter den größten Pfadfindern auf dem
Gebiete rein methodologischer Natur-
beobachtung, die man als der unfrucht-
baren mystischen Behandlungweise polar
entgegengesetzt zu bezeichnen pflegt.
Wenn er in manchem geirrt hat, so
war er in vielem unendlich groß; während
andere — nach Goethes schöner Bemer-
kung — wenig irren, aber auch wenig
Wahrheiten zu Tage fördern. Niemals das
wirklich Bedeutungsvolle, ohne mancherlei
Wertloses; aber auch niemals strenge,
exacte Naturforschung ohne die befruch-
tende Thätigkeit der Phantasie, ohne die
vorauseilende anticipierende Ahnung. Denn
ohne den himmelstürmenden, sich selbst
verzehrenden Flug und das lodernde Feuer
der selbstumarmenden Phantasie gibt es
wohl ein Abzählen von Beinpaaren, ein
Bestimmen von Umdrehungszeiten, ein
Abwägen bis auf die berühmte vierte
Decimale; Meereshöhen, Sternorte, speci-
fische Gewichte, lateinische Namen; alles
— nur keine echte, dem schweren Werke
der Welt-Erklärung frommende Natur-
wissenschaft.
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