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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 4, S. 81

Text

ÜBER HENRY BEYLE-STENDHAL.*
Von ERNST SCHUR (München)

Henry Beyle, ein Künstler des Milieus
und der Seele.

Man muss dabei seine Zeit in An-
rechnung bringen. Heute gilt das als eine
Forderung, die man erfüllt und nach deren
Erfüllung man sich gerecht ausruhen
kann. Stendhal suchte sich damals tastend,
unbewusst und doch wohl mit einem
geheimen Schauder des Wissens seinen
Weg und erfüllte schwankend und doch
sicher etwas, das als Forderung ihm nicht
bekannt war. Ihm wurde dafür keine
Anerkennung zutheil. Das ist eine weise
Mahnung, die sich jeder rechte Künstler
zu Herzen nehmen wird. Noch nie ward
einer groß, indem er ein Programm treu
erfüllte. Sich-selbst-treu sühnt die Treu-
losigkeit gegen Andere, und den nach-
kommenden Geschlechtern erscheint diese
Treue gegen ein Programm — Richtung
genannt — nur als ein Zeichen eigener
Schwäche; wer sich selbst nicht hält,
lehnt sich an, schafft sich einen Fetisch.
Darum soll man gegen diese Reden
immer misstrauisch sein. Wir kennen
allerdings alle diese Umstände, diese Zeit-
und Streitfragen und diese gequälten
Schreie; aber wenn nun diese Zeit
vorübergerauscht ist und mit ihr all das
Zufällige und Kleine, das ihr doch Ge-
präge gab — was bleibt dann noch?
Freilich ist da die Grenze schwer zu
ziehen, und wo hier die Gewissheit liegt,
ist selbst Dem nicht klar, der sie fand.

Wenn man Henry Beyle seine roman-
tische Note vorwirft, die ihm die Dinge
oft übertrieben und verzerrt gibt, so mag
man mit einem Gegeneinwand antworten.
Wieviel von diesem romantischen Blut
kreist nicht noch in unseren heutigen

Künstlern? Beyle ist dagegen noch ein
Kind und hat positive Werte dafür vor-
zuweisen. Man muss, um das verstehen zu
können, gleichsam das Kleid seiner Zeit
ausziehen können. Und auch das wirft
man ihm vor: er sei den äußeren
Geschehnissen gegenüber so machtlos.
Sind andere unter den Jetzlebenden ihm
etwa darin über, den Sinn des Lebens
zu fassen? Ein deutliches Zeichen für
diese Hilflosigkeit ist der Schluss unserer
Romane. Aber gerade hier ist Beyle ehr-
licher, offener als viele heutige Künstler,
die dann ein Gesäusel und Gebimmel
anheben und ein Ende wähnen, wo sie
sich in die nebligen Wolken einer all-
gemeinen Stimmungsmacherei verirren.
Man kann ruhig zugeben, dass Beyle in
der willkürlichen Art und Weise, wie er oft
den Schluss herbeiführt, Mängel zeigt, die
von einem hohen künstlerischen Standpunkt
nicht zu billigen sind, aber selbst da —
muss man zugestehen — besitzt er noch
so viele Vorzüge, enthüllt er so viele
heimliche und reine Reize, die er halb
doch wieder verbirgt, dass er darin wohl
die meisten noch übertrifft. Auch in diesen
Fehlern zeigt sich eine hohe geistige
Überlegenheit, insofern, als er sie nicht zu
bemänteln sucht. Nimmt man nun noch
dazu, dass sich Stendhal damals allein
auf diesem seinem Spürwege nach dem
neuen Lande befand, so muss man zu-
gestehen, dass er seinem Ziele mit einer
Sicherheit zuschritt, die verblüffen muss.
Allerdings klafft ein Widerspruch zwischen
innerem Erlebnis und deren Verdeut-
lichung einerseits und dem Hineinführen
der äußeren Geschehnisse in das Leben
seines Helden andererseits. Da aber dieser

* Henry Beyle lebte von 1783—1842. Erst jetzt erscheint eine Auswahl seiner Werke
in der Übertragung von Fr. von Oppeln-Bronikowski bei Diederichs in Leipzig, beginnend mit
»Rouge et noir«.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 4, S. 81, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-04_n0081.html)