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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 4, S. 82

Text

SCHUR: ÜBER HENRY BEYLE-STENDHAL.

Zwiespalt heute beinahe noch ebenso
klafft und ebensowenig überwunden ist,
so kann man es diesem Menschen von
1800 wohl nicht allzusehr verargen.

Herr Friedrich von Oppeln-Bronikowski,
der Übersetzer des in der Anmerkung
angeführten Romanes, findet Veranlassung,
zugestehen zu müssen, dass bei Beyle in
dieser Führung der Schlusslinie allzu
reichliche Mängel auftreten. Ich brauche
nicht zu sagen, dass ich diese Ansicht
nicht theile. Der Herr Übersetzer nimmt
da noch viel zu sehr einen Standpunkt
ein, dem der Einfluss literarischer Strö-
mungen sehr anzumerken ist. Er glaubt,
einen Compromiss machen zu müssen,
wo er in der Ruhe seines künstlerischen
Gewissens abweisend sein durfte. Dieses
Problem, wie der Held ins Leben zu
entlassen ist — das Problem gleichsam
einer Auflösung in die großen Linien des
Lebens — das ist auch heute noch
Problem. Es war vielleicht ein guter
Schachzug des Übersetzers, seinem Autor
ein wenig seine Fehler vorzurechnen; so
kommt man in die Zwangslage, den
Autor gegen die ungerechten Vorwürfe
seines Übersetzers zu vertheidigen. Dieser
Mangel ist ein Mangel an der Fähigkeit,
seinen Standpunkt so zu wählen, dass
sich diese Unebenheiten der Wahrnehmung
in dem Dichter ausgleichen. Und man
kann sagen, dass an der Versöhnung
dieser Gegensätze eigentlich immer noch
gearbeitet wird. Es ist dies auch zum
guten Theil eine Folge der technischen
Handhabung, und namentlich muss man
dies bei Beyle in Anrechnung bringen,
der eben erst die Waffen für diesen neuen
Gang sich schliff. Eigentlich, wenn man
bedenkt, dass es nur einen gibt, der an-
nähernd diesen Standpunkt fand und dem
diese Ausgleichung daher gelang, aus
welchem Grunde er auch, soweit es jetzt
zu übersehen ist, alle, die in oder außer
Europa noch scharfen und arbeiten, über-
trifft — Leo Tolstoi — wie kann man da
bei Beyle noch von einem Mangel reden?

Es packt Einen oft die Sehnsucht, in
einer Zeit aufgeblasener Gefühle, unechter
Verbrämungen, unwahrer Vergrößerungen
und Verrückungen einen Roman sich zu

denken, eiskalt wie ein Gletscher, alle
Gefühle wie in einen dicken, undurch-
dringlichen Pelz eingehüllt; nur die Personen
selbst sprechen und handeln, sonst nichts.
Heute hört man meist nur den Autor,
der über seine Personen schwätzt wie ein
Waschweib, und den Strom seiner ge-
fühlsduseligen Bemerkungen um das
Ganze fließen lässt, so dass es ein Brei
wird, den man Stimmung nennt. Die
Autoren heißen Stimmungskünstler. Für
unsere heutige Zeit ist dabei — um Ent-
gegnungen vorzubeugen — zu bemerken,
dass es einen Abschnitt in der Entwick-
lung gibt, wo alles, auch dies, sich recht-
fertigt; doch thut diese Erkenntnis einem
kritischen Urtheil keinen Abbruch.

Nun — hier ist dieser Autor. Seine
Schilderungen liegen vor uns wie eine
wundervoll klare Landschaft im Winter.
Alles ist klar zu erkennen, tritt deutlich,
rein und scharf vor die Augen. Ein
Wintertag ist immer stark und voll Hoff-
nungen, ist niemals ein End-, immer, wie
ich ihn hier sehe, ein Ausgangspunkt.
Diese kühle Vornehmheit, die Stendhal
sich seinem Stoff gegenüber wahrt, be-
ruht auf der Erkenntnis eines künstlerischen
Gesetzes von der Distanz des Stoffes.
Diese ermöglicht ihm die Sicherheit, die
Ruhe der Beobachtung, und erlaubt ihm,
unbeeinflusst durch Vorliebe oder Abneigung,
mehr nebeneinander und tiefer unterein-
ander zu sehen. Im Grunde also ist es
eine Folge seines künstlerischen Charakters.
Ebenso eine Folge seines wahren, tiefen
Erkenntnisdranges. Er vermischt oder ver-
mengt nicht die Welt der Erscheinungen.
Das zog Nietzsche, diesen reinlichsten
Künstler, zu ihm hin. Ungemein scharf
arbeitet sich damit sein literarisches Porträt
heraus. Er kriecht nicht am Boden, klein
unter Kleinen, sumpfig im Sumpf, er
hätschelt nicht ihre Sympathien, beklagt
nicht ihren Kummer — auf einem ent-
legenen Berge wählt er sich seinen ruhigen
Sitz und schaut von droben über die Ebene.
Man versteht wohl, weshalb Nietzsche
diesem kühnen Geist seine Liebe schenkte.
Ihm ist unter der Fülle der Erscheinungen
das Ganze nicht verschwunden. Diese
Fähigkeit offenbart sich als eine Folge
menschlicher wie künstlerischer Durch-
bildung und Zucht. Seine Worte klingen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 4, S. 82, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-04_n0082.html)