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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 4, S. 83

Text

SCHUR: ÜBER HENRY BEYLE-STENDHAL.

wie Musik von Rossini. Auch diesen liebte
Nietzsche.

Ich verglich Stendhals Schilderungen
mit einer Landschaft in der Klarheit
eines Wintermorgens. Diese ist am
schönsten, wenn die Sonne warm darüber
liegt. So ist es auch hier. Beyles tief-
ruhiges Herz leuchtet hinter all den
Worten hindurch. Nie lässt er sich unter
den Wust wüthender Empfindungen ver-
schütten; aber über diese kühlen, sach-
lichen Worte, die nachspüren und notieren,
spannt sich der Bogen eines warmen,
gleichen Gefühls; der trägt und hält das
alles. Was der Übersetzer als romantische
Note tadelt oder sogar verwirft, finde in
diesem Gegensatz seine Erklärung. Denn
schließlich — einmal geht das Herz mit
ihm durch, das gebändigte, und wo das
geschieht, geschieht es gleich so gründ-
lich, dass an ein Gleichmaß gar nicht
zu denken ist. Es brodelt nun alles wüst
durcheinander, es gibt kein Halten mehr.

Ist eine Erklärung — psychologisch
und menschlich — nicht besser als Tadel
und willkürliche Anrechnung?

In unserer Zeit liebt man nicht die
Linie; man sucht die Farbe. So ist es auch
die Arbeitsweise des Schriftstellers. Es
siegte auch hier der Impressionismus.

Henry Beyle ist ein Künstler der Linie,
und allen Denen, welche die Reize und
die feinen Geheimnisse der Linie kennen,
die da mitgehen, wo mehr als Empfäng-
lichkeit für das Ganze als solches ver-
langt wird, werden ihm Dank wissen. Was
man überall sucht, er hat es: Stil.

Stil ist zum größten Theile Reinigung.
Die Reinheit seiner Linienführung im
Ganzen ist ebenso bewunderungswürdig,
wie die Ausführung und die Arbeit im
Einzelnen. Mit Menzel könnte man ihn
vergleichen, käme nicht noch dies Tem-
perament hinzu. Von seltener, unver-
gleichlicher Bedeutung ist es, wie Stendhal
hier arbeitet. Vorsichtig, doch sicher, setzt
er Strich neben Strich. Vieles lässt er
vorläufig unberücksichtigt; er lässt es noch
liegen. Er gehört nicht zu Denen, die
alles auf einmal geben wollen. Er hält
sich gehörig im Zaume und regelt, dämmt

seine Kräfte ein. Gerne hat er das Genug
und das Vorläufig. Das bereitet ihm Genuss,
und er ist oft ganz raffiniert dabei. Im
nächsten Capitel fügt er dann ein paar
Striche hinzu; er tritt etwas zurück und
bemerkt, dass dieser oder jener Theil noch
der Vervollständigung bedarf. Dann trägt
er wieder stärker auf und vertieft das
Bild, bis es sich nach und nach, vor den
Augen des Lesers fertig auswächst. Wohl,
die Personen stehen von Anfang an fertig
da; Beyle selbst nimmt sie von vorn-
herein als gegeben an; er zeichnet uns
aber, gewissermaßen neben dieser wirk-
lichen Fülle, ein kleines Abbild mit einem
zierlichen, dünnen Stift; wie wir solche
kleine, erklärende Skizzen oft neben großen
Bildern hängen sehen; nur künstlerischer;
hier legt er seinen ganzen Geist hinein.
Und es ist eine reizvolle Wechselwirkung,
wie sich oft das Eine über das Andere
schiebt, verdrängt. Und schließlich, ehe
man es ahnt, ist der ganze Mensch fertig,
mit all seinen Andeutungen und Ver-
sprechungen. Heute will man mehr Körper
sehen und die Fülle der Formen. Die
Japaner zeichnen ähnlich; aber nur in
gewisser Hinsicht. Stendhal liebt den
Umriss, das Skelet der Figuren.

Es muss hervorgehoben werden, wie
fein Beyle die Grenze innehält, die seiner
Linienkunst gezogen ist. Er hat ein Auge
so scharf und offen, wie Wenige, und
man kann überzeugt sein, dass er alles
sieht, die Wollust und den Taumel der
Leidenschaften, die schlangenartige Klug-
heit, die dicht neben dem übervollen
Herzen wohnt und auch den Ekel und jenes
letzte Gemisch von Hohn, Güte und Ein-
samkeit, womit sich jeder Mensch im
letzten Grunde von dem anderen trennt
und zu seiner Eigenrettung flüchtet.
Diesen Dunstkreis, in dem jeder sein
eigenes Leben lebt. Er sah dies alles.

Und doch! Neben dieser Fähigkeit
stand eine andere, eine weise und kluge
Bändigerin, die es ihm möglich machte,
einer Stimme, die ihm irgendwoher Halt
zuruft, zu gehorchen. Was es war, ist
schwer zu sagen. Vielleicht war es eine
große Achtung und ein tiefes Gefühl vor
den Erscheinungen und jenen Ereignissen,
die eigentlich jeder nur für sich selbst
in Bitterkeit und Süße auskostet; er wollte

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 4, S. 83, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-04_n0083.html)